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kostbare Zeit ausschließlich mit jenen Palliativen ausgefüllt. Die eigentliche Wendung
zum Bessern aber datirt erst von dem Augenblicke, wo das Ministerium Rogier mit einem
national-ökonomisch durchdachten Plane vor die Abgeordneten trat und noch in derselben
Sitzung - am 4. December 1847 - die Zustimmung der Kammer dafür erlangte. Dem
Ministerium wurde ein Credit von U, Million Francs erödnet, wozu im Jahre 1848 noch
2 Millionen und im Jahre 1849 wieder eine Million hinzugefügt wurden. Davon bestimmte
man 500.111) Francs speciell zur Einführung neuer und Verbesserung schon vorhandener
Industriezweige. Ausdrücklich aber betont Rogie r, dass die Regierung der Privatthi-tig-
keit nur ihre Mitwirkung leihe; die Regierung dürfe, könne und wolle nicht alles allein
thun. Nun wurden Export-priintien für Leinwand festgestellt, junge Männer sandte man
zur Anknüpfung von Handelsverbindungen ins Ausland und vertheilte vervollkommuete
Spinnriider, metrische Haspeln, Wegen zur Classification des Garnes, Schnellschützen,
Metallkimme und neue Wsbstühle. Man suchte die Weber dahin zu bringen, dass sie nur
auf Bestellungen arbeiteten und aufhörten Selbstunternehmer zu sein, Andererseits errich-
tete man eine großartige Bleicherei, Appreturanstalt und Färberei, um den Leinenfabrikanten
die Fertigmachung ihrer Waaren zu erleichtern. Bei weitem die krüftigste, glück-
lichste und folgenreichste Massregel war jedoch die Errichtung der Lehr-
Werkstätten (aleliers modklea), womit Belgien ein Muster aufgestellt hat,
von welchem, unserer Ueberzeugung nach, eine Reform des Schulwesens
bei allen industriellen Völkern datiren wird.
Die Aufgabe derselben in Bezug auf die Leinenindustrie war die, dass die Weber
ihrer Isolirung und Erstarrung entrissen, sowohl zu einer bessern Organisation des Arbeiter-
systems, wie zu besserer Technik der Arbeit herangebildet werden sollten. Zuerst trieb
die Noth die Weber in die Lehrwerkstätten; bald aber lernten sie es schützen, dass man
ihnen die Gelegenheit bot, durch Erlernen vervollkommneter Arbeitsmethoden ihren Ver-
dienst zugleich zu sichern und zu vermehren, und mit dieser Erkenntniss waren sie tiir
den Gedanken einer fortschreitenden Verbesserung gewonnen und bequemten sich gerne
zum Verzicht auf ihre frühere, im Grund nur scheinbare Selbstständigkeit. Aus herab-
gekommenan, an der ererbten Methode klebenden, vereinsamten Unternehmern wurden sie
geschickte und. besser bezahlte Mitglieder einer grossen und natürlichen Arbeitsorganisation,
welche den Kampf mitder ausländischen Concurrenz ertragen und allmälig auchbesiegeukonnte.
Die Lehrwerkstätten sind sehr einfach eingerichtet. Irgend ein geschickter Weber
wurde gegen Entlohnung besümmt, durch die Praxis dem lernenden Arbeiter verbesserte
Arbeitsmethoden beizubringen. Zu der Zeit ihrer Gründung fanden sich Schüler ohne Unter-
schied ihres Alters iu den Lehrwerkstlitten. Später, als die älteren Arbeiter meist schon
eine gute Ausbildung hatten, traten die Lehrlinge in jugendlichen Jahren in das Atelier
ein und begannen ihren Cursus mit dem Spinnrad und der Spule. Waren sie mit den
Elementen der Spinnerei bekannt, so avancirten sie allmälig zum einfachen Webstuhl üir
glawes Leinen und von dort zum Jacquard und zu den comphcirten Webstiihlen üir bro-
ehirte und faconnirte Gewebe. Die Erfahrung hat gelehrt, dass diejenigen Arbeiter, welche
diese systematische Ausbildung genossen haben, ihre erst in späteren Jahren eingetretenen
Genossen in jeder Beziehung übertlügeln. Es ist nicht allein die Kenntniss der Behandlung
des Rohmaterials, welche ihnen zu Statten kommt; sie gewöhnen sich auch an Ordnung
und Gleichmäßigkeit in der Arbeit, und der höhere Lohn, den sie erhalten, wird fiir sie
zur wirksamen Prämie und zum Sporn für weitere Fortschritte. Der Arbeiter, welcher mit
dem Weben von Packleinen bei aufreibendem Fleisse kaum 24 - 2B Nkr. täglich zu er-
werben wusste, sah sich durch den Unterricht in der Lehrwerkstiitte bald in den Stand ge-
setzt, mit dem Webstuhl fir Damast 50-80 Nkr. zu verdienen. In der neueren Zeit sind
diese Löhne natürlich unverhiiltnissmässig viel höher geworden.
Die Zahl der Lehrwerkstlitten betrug bis zum Jahre 1853 in den beiden Flandern 67.
Bei der Neuheit der Sacue ging man anfangs vorsichtig tastend und versuchend vor. Was
die innere Organisation betrifft, erwies sich diejenige als die beste, welche die Lehrwerk-
stiitten nach Möglichkeit auf kaufmännische Grundsätze stellte. In den meisten Füllen
hielt man an dem Gnrndsatze fest, dass Einrichtung und Betrieb des Ateliers Sache eines
Privatunternehmen sein müsse, und vom Staate, wie von der Provinz und der Commune
nur eine Unterstützung zu gewähren sei. Diese Unterstützung berechtigte zu einer Ober-
aufsicht, welche insbesondere darüber zu wachen hatte, dass der Lehrer nicht, wie es sonst
in solchen Verhältnissen so häufig vorankommen pflegt, die Arbeitskraft des Schülers blos
ausnutzt und die schnelle, allseitige Vollendung der Studien desselben hemmt, weil er in
ihm einen werdenden Concurrentsn üirehtet. _
Dieser Punct ist sehr wichtig, obgleich er wenig beachtet wird; unter den bis jetzt
noch an den meisten Orten üblichen Einrichtungen hat man die praktische Heranbildung
für den zukünftigen Lebensberuf in die Hand derjenigen gelegt, welche 0B kein Interesse
daran haben, ihre Schüler ohne Umwege rasch zum Ziele zu führen.