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unzerstürbaren Stempel des Vorzugs an sich tragen. Mögen iiussere Verhältnisse noch so
ungünstig einwirken, mögen Kriege, Revolutionen verwüstend über die Bevölkerung und
das Cspital dieser Länder hinziehen, kaum ist eine ruhige Periode eingetreten, so er'-
wachen die alten Künste und Fertigkeiten wieder, und der menschliche Fleiss beginnt auf's
Neue erfolgreich sein mühsames, aber auch den höchsten Lohn in sich selbst tragendes Werk.
Zn diesen begünstigten Strichen unseres Welttheils gehört Belgien.
Seine Lage zwischen England, Frankreich und Deutschland, sein Boden, welcher
der Landwirthschaft viele Vortheile bietet und grosse Lager von Kohlen und Eisenerzen
in seinem Schoosse triigt, eine Bevölkerung endlich, die aus zwei sehr verschiedenen, aber
für die Arbeit gleich befähigten Stämmen zusammengesetzt, inr vlämischen Theil mit der
niederdeutscheu Ausdauer noch rheinfränkisches Kunstgeschick, und im Südwesten mit
wallonischer Willenskraß französische Gewandtheit verbindet, - das sind die Elemente,
auf welche gestützt dieses merkwürdige Land regelmässig ein blühendes Erwerbsleben ent-
wickelte, so oh es durch Glück oder eigene Thatkraft eine Verwaltung fand, die ihre erste
Aufgabe in der Förderung des Volkswohles erblickte.
Die Bliithezeit der Gane, die man jetzt unter dem Namen Belgien begreift, fällt in
die Zeit vom 13. bis 16. Jahrhundert. Damals theilten sich diese niederländischen Theile
des lockern deutschen Reichsverbandes mit den mächtigen Städten der Hanse in den Welt-
handel, denn ein Gegensatz zwischen den Niederländern und den Hanseaten bildete sich
erst gegen Ende des Mittelalters; in Bezug auf industrielle Production und Kunstfertigkeit
standen jedoch die belgischen Niederlande vor den Hanseaten entschieden voraus. Aus
jener Zeit stammen die herrlichen Dome, die stolzen Rathhiiuser und alle die berühmten
Kunstschlitze, die wir noch heute als stumme Zeugen der Macht und des Beichthums der
vldmischen Städte inAntwerpen, Gent, Brügge, Löwen n. a. Orten bewundern. In Brügge
allein bestanden 15 grosse Handelsgesellschaften und 66 Zünüe, welche letztere weit rich-
tiger mit grossen Productionsgenossenschaiten, als mit den später entarteten „Zü.utten" zu
vergleichen sind. Ebenso war Brügge ein Weltmarkt wie damals nur noch Constantinopel;
Antwerpen, zugleich das Liverpool und Manchester der damaligen Zeit, sah oft an einem
Tage die Scheide von 500 Schiden befahren; darf man zeitgenössischen Nachrichten Glauben
schenken, so wurden in dieser Stadt in einem einzigen Monat soviel Geschäfte abgeschlossen,
als in dem damals gleichfalls hochberühmten Venedig in zwei Jahren. Namentlich war
und sich von dort über Europa verbreiteten.
Allein dieser glänzenden Entwickelung fehlte die Sicherheit. Das deutsche Reich,
ein zwar schwer-fälliger, aber immerhin in seinen Theilen kraftvoller und durch alte Würde
imposanter Körper, wurde in seinem Zusammenhang mehr und mehr gelockert, und da-
durch verlor die städtische Freiheit und der städtische Wohlstand in ganz Mitteleuropa
directen Schutz gewährt. Viele Jahrhunderte lang konnte es keinem auswärtigen Feind
gelingen, sich auf deutschem Boden festzusetzen. und die Kriege trugen daher mehr den
Charakter localer Fehden. Aber mit dem Zerfall des Reiches hörte dies auf, und aus-
wärtige Einmischungen, Eroberungen und furchtbare innere Zerwiirfnisse brachen über die
mitteleuropäischen Länder herein. _
Nicht ohne ein Unrecht gegen Deutschland trennte Karl V. die Niederlande vom
Reiche ab und schlug sie zu einer spanischen Erbportion. Die nördlichen Provinzen (Hol-
land) rissen sich später los; Belgien aber blieb 160 Jahre lang eine spanische Provinz.
Erst im J. 1718, durch den Utrechter Frieden, fiel Belgien an Oesterreich zurück. Achtzig
Jahre dauerte diese Verbindung, die im Ganzen liir beide Theile eine segensreiche war.
Unter dem weisen Scepter Maria Theresiais trat für Belgien eine seit den glänzenden
Tagen des Mittelalters unerreichte Bliithe ein. Wie Maria Thcresia überhaupt bestrebt
war, die Sicherheit ihrer ziemlich zerstreuten Besitzungen auf die Zufriedenheit und den
Wohlstand der Bewohner zu gründen, so rühren auch manche vortreffliche Ein-
richtungen der belgischen Volkswirthschaftspfege, z.B. die ersten Zeichen-
schulen, von dieser grossen Herrscherin her.
Umgekehrt wusste Maria Theresia die Bildung und die Kenntnisse der Belgier zum
Vortheil der Erhlande zu verwerthen. Es ist bekannt, dass eine Reihe bedeutender Männer
und heute noch in Oesterreich blühender Familien aus den belgischen Niederlanden stammt;
ebenso erzählt die Indnstriegeschichte, dass durch belgische Einwanderer zahlreiche neue
Industriezweige oder Verbesserungen bestehender Gewerbe nach Oesterreich verpflanzt
wurden. Aber diese Verbindung, schon vorher gelockert durch Missverständnisse , wurde
durch die französischen Revolntionskriege zerrissen und auch im Jahre 1815 leider nicht
wieder geknüptt.