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Ansichten, einen Hang zu theorstisirendem Aburtheilen nähren. Man ist in jenem Industrie-
laud allgemein der Ansicht, dass eine Schule, sobald sie mehr als eine formale Verstandes-
bildnng bringen soll, mit der Praxis Hand in Hand geben muss. Nun versuchte man An-
fangs wohl, mit dem Hörsaal eine Art Werkstatt zu verbinden; man überzeugte sich aber
bald, dass dies in Spielerei ausarte, da. sich wohl hier und da ein HandgriE, ein Arbeits-
vortheil, aber sicher nicht der Erwerb durch Arbeit in dem Schulsaal erlernen lässt.
So ist denn der zweite Unterriebtsgang (s. oben H) zu immer allgemeinerer Anerkennung
gelangt. Der Schüler bleibt auch bei dem Besuch der Mittelschule in der Praxis, wie schon
vorher, als er die Volksschule besuchte. Er ist Lehrling in einer Lehrwerkstätte oder einem
Comptoir, nur wird seine Arbeit etwas gekürzt, so dass er am Abend noch mit guter Kraß
in die Schule kommt und nun in concentrirter Form nach und nach die Kenntnisse und
Fertigkeiten sich aneignet, die in den Mittelschulen gelehrt werden. Da die Schüler in
der Regel des Morgens schon durch ihre Arbeit in Atelier und Sehreibstube ihr Brod ver-
dient haben, so kommt es gar nicht so sehr darauf an, oh sie einige Jahre mehr oder
weniger in diesem Cursus bleiben. Zuerst besuchen sie die Zeichenschule; ist diese zurück-
gelegt, su erfolgt - etwa im 17. Jahre -- der Eintritt in den eigentlichen Gewerbecursus.
Was die Z ei c h e n s c h n l e bet-ridt, ist es eine Thatsache, die in uns Oesterrei-
chern eigenthümliche Betrachtungen erweckt, dass die Gründung dieser Schulen in Belgien
durch eine österreichische Regierung erfolgte. Vor mehr als hundert Jahren rief Maria
Theresia sie in's Leben. Jetzt ist einNetz von Zeichenschulen über ganz Belgien gebreitet,
beginnend mit den Anfängen und hinaufreichend bis zur Akademie der schönen Künste mit
einer stattlichen Gernäldesammlung und grossen periodischen Ausstellungen. Schon im Jahre
1840 hatte Belgien 43 solcher Schulen mit einem Besuch von mindestens 7000 Köpfen.
Gegenwärtig ist die Zahl dieser Schulen, die meist aus städtischen Mitteln erhalten sind,
eine viel grössere. Der Unterricht wird in der Regel nur im Winter enheilt, und zwar von
5 bis 8 Uhr Abends. Das Zeichnen bei Gaslicht hat nicht den mindesten Anstand. Es
wird darin betrieben: Linearzeichnen, Ornsmentenzeichnen, Musterzeichnen, Perspective, die
Dupuis'scbe Methode, Zeichnen nach dem Modell, ferner Modelliren, - je nach dem Bedarf
der in der betreiienden Gegend vorzugsweise vertretenen Industriezweige. Neben dem Zeichnen
sucht sich der Schüler noch einige Sprachkenntnisse zu erwerben. Die weitere Ausbildung
Rir Architekten, Schifbauer, Graveure und Bildschnitzer erfolgt in besonderen Fachanstalten.
Hat der Schüler etwa vom 14. bis 17. Jahr durch Zeichenunterricht seinen Geschmack
gebildet und die Kunst der Conception und liusserlichen Darstellung entwickelt, so wendet
er sich der G e w e r b e s c h u l e zu. Der Unterricht in diesen Fortbildungsschulen, die
meist von Gemeinden gegründet und von städtischen Ausschüssen überwacht sind, wird
gleichfalls in den Abendstunden ertheilt, wobei man besonders darauf sieht, dass anregende,
tüchtige Lehrer ihre Lehren in concentrirte Form zusammendriingen. Hier werden Mathe-
matik, Mechanik, Physik, Chemie, Gewerbehaushalt u. A. vorgetragen. Die Gewerbehoch-
schule mit ihren verschiedenen Fachschulen für Bergingenieure und Gewarbeingenieure
bildet die dritte Stufe.
Auch iiir das weibliche Geschlecht ist gut gesorgt. Zunächst durch die Arbeits-
schulen (äcolss Japprentisraye), worin die kleinen Mädchen im Nähen, Stricken, Sticken,
Festonniren, im Handsehuhnähen und Spitzenklöppeln Unterricht erhalten und dabei in
zwei Abendstunden täglich die in derVolksschule üblichen Gegenstände, darunter die fran-
zösische Sprache, gelehrt werden. Das mittlere Verdienst eines kleinen Mädchens in der
Schule wurde im Jahre 1851 auf 17 kr. angegeben. Sie lernen also schon früh das Er-
werben und zehren nicht für Unterricht die oft kargen Sparpfennige der Eltern auf. Das
Capital, womit sie später in's Leben treten, besteht in Können, nicht blos in abstractem
Wissen. Die verhiingnissvolle Ueberproducüon von Intelligenz, die deutsche Gouvemanten-
und Hofmeistercalamitit kennt man nicht in Belgien. Die Arbeitsschulen für Mädchen sind
durch Private, Gemeinden, oit auch durch weibliche Orden in's Leben gerufen. In "der
Provinz Ostilsnderu bestanden bei einer Bevölkerung von etwa 800.00) Einwohnern 369
solcher Arbeitsschulen mit 17.000 Schülerinnen.
Ueberblicken wir dies System von Schulen, so sehen wir in die Mitte desselben die
Gewöhnung an Arbeit und Ausbildung zur Arbeit gestellt. Ueberall dominirt die Praxis;
nirgends ist es der imDienste des ößentlichen Unterrichts stehenden Theorie gestattet, sich
zu lußigen Lieblingssphireu aufzuschwingen, und gerade desshalb ist auch die Theorie so
nutzbringend und so hoch geachtet. Alle Stände und alle Stufen der gewerblichen Thätig-
keit finden in Belgien die kürzesten Wege gebahnt, um in den Besitz der intellectuellen
Mittel des Fortkouxmens zu gelangen. Für den einfachen Arbeiter, den Werkführer (eontre-
maitre), den spätem Meister und Unternehmer, stehen leicht zugänglich gemachte, passende,
logisch verbundene und doch auch wieder in sich selbstständige Stufen der Ausbildung
bereit. Ueberall wird bei Feststellung der Zeit des Unterrichts zuerst auf die Arbeitsstunden
schonende Rücksicht genommen. Die Bildung wird einem Jeden angeboten; dass aber der