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Zuerstwurde aus denlldaassverhältnissen lebender Männer undFrauen das
Vorhandensein dreier Bildungstypen nachgewiesen. Da diese Typen in der Regel mit
bestimmten Körperhöhen zusammentreden, so wurden sie als der Typus der kleinen und
mittleren Statur und als der Typus des Huchwuchses unterschieden. Zusammengestellt
ergaben sie als Regel, dass mit der Steigerung der gesammten Körperhöbe die untere
Körperhälüe - als Grenze den oberen Symphysenrand angenommen - an Länge zunimmt
und in Betrelf der inneren Gliederung, dass in der oberen Körperhälße die Kopfhöbe ab-
nimmt, in der unteren aber der Unterschenkel den Oberschenkel um etwas iiberwächst. Es
zeigte sich ferner, dass bei hohen Staturen der Querdnrchmesser der Hüfte etwas zugenom-
men, der der Schulter dagegen um etwas abgenommen hat. Hochgewachsene sind daher in
der Regel schenkellange Gestalten, welche säulenartig emporrageu, während kleine Leute
auf kurzen Beinen einen nach unten verengten Rumpf tragen. Bei Staturen mittlerer
Grössa findet sich, wenn man die Wurzel des männlichen Gliedes als Grenze nimmt, häufig
genug ein Gleichmaass der oberen und unteren Körperhälße.
Dabei darf aber der Einßuss der B eckenneigung auf das Verhliltniss der untern
zur oberen Körperhälfte nicht übersehen werden. In dieser Beziehung gilt wieder als Riegel,
dass eine starke Beckenneigung den Rumpf verlängert, eine geringe dagegen die Beine
streckt.
Aus dem Tahleau antiker Männergestalten liess sich gleich ersehen, dass von
den drei natürlichen Gestaltungstypen meist nur der Mittel- und Hochwuchs Gegenstand
der Nachahmung waren. Bei genauerer Durchsicht der Werke liessen sich aber noch
andere unterscheidende Kennzeichen auffinden.
Der Mittelwuchs zeigt sich nämlich in zwei Formen durchgebildst, deren Unter-
schiede sich auf die horizontale Gliederung gründen. Bei einer Reihe von hieher gehörigen
Figuren ist nämlich die Schulterhreite mindestens gleich der doppelten Hiiftbreite, mit-
unter sogar darüber vergrössert, manchmal aber auch unter diesem Maass gehalten. Der
Mittelwuchs ist daher bald in breiten, bald in schlanken Formen dargestellt worden.
Der Hochwuchs ist ebenfalls wieder bald in maassvoller Steigerung der unteren Glied-
massen angelegt, bald aber auch bis zum Uebernatiirlichen fortgeführt und was wichüg
zu sein scheint, sehr ungleich in Betreff der inneren Gliederung der Beine ins Werk ge-
setzt. Bald ist nämlich der Unterschenkel gleich lang mit dem Oberschenkel, bald ist er
länger. mit einer Differenz, welche nur selten dem Natürlichen sich nähert, meistens aber
grösser ist und sogar den sechsten Theil der ganzen Oberschenkellänge erreicht.
Im Ganzen lassen sich daher aus den Antiken zwei Formtypen und an jedem
derselben wieder zwei Varianten bcrausheben: der Typus des Mittelwuchses - breit
oder schlank - und der Typus des Hochwuchses - mit Gleichmaass in Ober- und Unter-
schenkel oder mit Ueberwiegen des Unterschenkels.
Als Beispiele für diese Formationstypcn wurden genannt: für den Typus des Mittel-
wuchses mit mächtiger Schulterbreite die alten Apollogestalten von Tenea und Therea, der
sogenannte marathonische Krieger des Aristokles, an welchem trotz der Proülstellung die
grosse Schulterhreite deutlich genug wahrnehmbar ist. Auch die Aeginetcn, obwohl laug-
beiniger, zeichnen sich durch die grosse Schulterhreite aus.
Etwas maassvoller in der Schulter, immer aber noch in natürlichem Mittelwnchs
aufgebaut, sind der Myronhche Discuswerfer und die Gestalten der Metopen des Parthenon;
selbst der Thesen: (Herakles) des Giehels kann hier noch angeschlossen werden.
Der entschieden schlanke Mittelwuchs findet sich an den Werken des Polyklet.
In den Formen des Hochwuchses, jedoch mit gleich langem Ober- und Unterschen-
kel sind gearbeitet der Apoxyornenos und die männlichen Gestalten der Niobidengruppe;
der erstere ist aber gleich in einem solchen Uebermaass der unteren Körperhilfte aufgebaut,
dass die Dißerenz derselben mit dem Oberkörper nahezu die Kopfhöhe betrügt. Mässig
lange Beine und Gleichmaass der Ober- und Unterschenkel zeigen die Aegineten und so
weit gute Abbildungen das Verhiiltniss noch beurtheilen lassen, auch der Apollo Saurok-
tonos und der capitolinische Satyr.
Durchbildung des l-Iochwuchses mit bedeutend verlängertem Unterschenkel findet
sich an dem Gallier der Gruppe, auch am borghesischen Fechter, ganz entschieden am pythi-
scben Apollo, Antinous, Meleager.
Aus dem Gesagten ist ersichtlich, dass, wenn die genannten Figuren nach ihrem
Gestaltungsverhiiltniss rangirt werden, wieder eine Reihe zu Stande kommt, innerhalb wel-
cher sich eine allmälig immer mehr und mehr gesteigerte Erhebung der Gestalt und eine
bis zum Excess fortschreitende Durchbildung der Eigenthiimlichkeiten des Hochwucbses
bemerkbar macht.
Merkwürdiger Weise aber zeigt sich auch, dass nahezu dieselbe Reihenfolge zu
Stanlde kömmt, wenn die genannten Figuren nach der Zeit ihrer Anfertigung geordnet
wer en.