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lichcr Darstellung dieselben künstlerischen Ziele, und haben sich im Laufe
der Zeiten bemüht, dieselben künstlerischen Aufgaben mit, wenn nicht
denselben, doch ähnlichen Mitteln zu lösen. Es folgt demnach hieraus,
dass diejenigen technischen Verfahrungsweisen künstlerisch die angemes-
sensten sind, welche das Werk der Stickerkunst einem Gemälde am "ahn-
lichsten zu machen vermögen, welche in gleichem oder doch in annäherndem
Grade imunterbrcchen Hiessende Contouren darstellen, die Farben ebenso
verschmelzen können und mit Licht und Schatten zu modelliren vermögen.
Betrachten wir zunächt von diesem Standpunkt aus dasjenige Ver-
fahren, welches heutzutage in der Stickerei bei weitem das gebräuchlichste
ist, ja von der Dilettantenhand fast allein geübt wird, den Kreuz stich,
Was dieser Stich hervorbringt, das sind kleine Quadrate, aus denen sich
die Zeichnung mosaikartig zusammensetzt. Die Contour, die er hervor-
bringt, kann also nichts anderes sein, als treppenförmig gebrochene, in
kleinen rechtwinkeligen Absätzen sich fortbewegemle gerade Linien. Eine
continuirlieh gebogene, geschwungene Linie ist dieser Technik also nicht
möglich. hing das zu Grunde liegende ltlaterial, mag der Faden, den die
Nadel durchzieht oder überspannt, noch so fein sein, das Resultat bleibt
immer dasselbe und die krumme Linie immer gebrochen, nur dass, je
gröber der Stoff, um so mehr auch das Unvollkommene der Arbeit zu
Tage tritt. Künstlerisch betrachtet, erscheint daher diese Art der Stickerei
für alle jene Gegenstände, welche ihr mit der eigentlichen Malerei gemein-
sam sind, wie {igürliche Darstellungen, Landschaften und ebenso für ge-
schwungene Ornamente und feine Blumenausführung durchaus unangemes-
sen, denn bei allen solchen Versuchen kann sie im Grunde doch nur
Carricaturen hervorbringen, oder wenn sie das vermeiden will, so wird sie
zu einer so unendlich feinen und mühsamen Arbeit, dass es Schade um
die Augen ist, die daran zu Grunde gehen. Um sich davon zu überzeugen,
braucht man nicht weit zu gehen, man braucht nur in unseren modernen
Wohnhäusern die Arbeiten unserer Damen, so viele Rückenkissen, Reise-
säcke, Fussschämel, Taschen und Tälschchen u. s. w. zu mustern, und man
wird über Werth und Unwerth dieses Verfahrens nicht lange in Zweifel
bleiben. Häufig haben diejenigen, welche solche Sticlcarbeiten ausführen,
auch eine Ahnung von der Unzulänglichkeit ihrer Technik. zumal, wenn
sie Iigürliche Gegenstände zum Vorbild haben. Alsdann glauben sie sich"
dadurch helfen zu können, dass sie, anstatt die Gesichter in ihrer eckig-
gebrochenen Manier zu sticken, sie lieber aus Lithographien ausschneiden
und an die betreffende Stelle ankleben oder festnähen. Dies aber ver-
schlimmert nur das Uebel; es macht den künstlerischen Gesammteindruck
durchaus unharmonisch und verdirbt noch dazu den Gebrauch dieser
Stoffe, indem es ein vergängliches, brechliches und steifes Material, das
keine Falten und keine Biegung verträgt, mit einem biegsamen und so-
liden verbindet.