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In dieser Linie liess man auch häufig die Goldfaden laufen, wenn man
mit ihnen ganze Flächen bedecken, goldene Gewänder bilden oder gol-
dene Gründe herstellen wollte. Gewöhnlicher aber, namentlich gegen die
spätere Zeit, war es, dass man die bedeckende Goldlage ganz gradlinig
bildete und zwar so, dass man den Goldfaden bis an die Contour des
Feldes, das man bedecken wollte, hinzog, dort umbog und nun wieder
hart an der ersten Linie zurüeklaufen liess, um in gleicher Weise die
dritte Linie zu bilden. Ueberfangstiche dienten dann wieder dazu, diese
Lage zu verbinden und zu befestigen. Zu dieser Methode veranlasste
auch die geringere Biegsamkeit und grössere Sprödigkeit des Goldfadens,
den man nicht in gleicher oder gleich leichter Weise durch den zur
Grundlage dienenden Leinwandstotf, wie den Seidenfaden, hindurchziehen
konnte.
Aus dieser letzteren Art der Benutzung von Goldfaden zur Bedeckung
grösserer Flächen ging gegen die Blüthezeit der Stickerkunst im vier-
zehnten und fünfzehnten Jahrhundert eine zu gleichem Zwecke verwen-
dete Technik hervor, die in ihrer Art an Vollendung dem für die Ge-
sichter verwendeten Plattstich zur Seite trat und mit ihm insbesondere von
der niederländischen Schule zur Ausführung jener wundervollen Arbeiten
benützt wurde, welche, wie die sogenannten burgundischen Gewänder in
der Schatzkammer zu Wien, noch heute das Staunen der Kunstfreunde
und Techniker erregen. Diese Stickweise nennt man ihres Ansehens wegen
den Webestich. Es sind nämlich die neben einander gelegten und
niedergenähten Goldfäden gewissermassen als die Kette eines Gewebes be-
nützt und farbige Seidenfiiden anstatt des Einsehlags in gleicher Art hin-
durch gegangen, und zwar ist dies zuweilen mit einer so ausserordent-
liehen Regelmäßigkeit und Sicherheit geschehen, dass die geübtesten
Augen getäuscht worden sind, und solche Stickereien für Werke des Webe-
stuhls, der Maschine gehalten haben. Diese Technik, welche die Franzosen,
wahrscheinlich mit dem häufig vorkommenden Ausdruck en or battu, in ge-
schlagenem Golde, bezeichnet haben, hat noch eine andere Eigenthümlich-
keit, worauf zumeist ihre äusserst glückliche. mit der Malerei gar nicht zu
erreichende Wirkungberuht. indem sie nämlich von der ausgebildeten Sticker-
kunst vorzugsweise zur Herstellung der Gewänder benützt wurde, verstand
man den Faltenwurf, die dunklen Tiefen in demselben und die lichten Höhen
dadurch herzustellen, dass man die Seidenfaden in den Tiefen dichter zog und
nach den Höhen hin mehr und mehr erweiterte und den goldenen Grund,
der also somit das aufgesetzte Licht und die Halbtöne bildete, hindurch-
schimmern liess. Hierdurch entstand nun die erwähnte wunderbare Wir-
kung, denn wenn an sich schon die Seide mit der Intensität und dem
Glanze ihrer Farben den Effect der Oelmalerei übertriEt, so kam hier
noch durch das hindurchschimmernde Metall der über die ganze Fläche