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über der Stirne; so die Bilder des Philosophen Lao-tseu, des Fo-hi, des
ersten Kaisers Hoang-ti und vieler anderen. Die Beschreibungen, _die wir
von ihnen in den Literaturwerken lesen, stimmen vollständig mit den
auch in Europa wohlbekannten Malereien und Sculpturen. Nun ist es
aber einejn allen Epochen und bei allen Völkern zu constatirende That-
sache, dass der Formensinn, so wie er sich in der künstlerischen Nach-
bildung der menschlichen Gestalt äussert, auch in allen übrigen Kunst-
gebilden einen seiner speciellen Eigenthümlichkeit entsprechenden Aus-
druck findet. So stimmen die chinesischen Vasen mit ihren oft schwer-
falligen Ansätzen, kurzen wenig vermittelten Hälsen und Füssen, und den
bald unterdrückten bald übermässig gestreckten Verbindungen vollständig
zu dem Charakter der chinesischen Kunst, und von diesem Standpunkte
aus wird sich uns sogar eine Art Verständniss für diese, uns im ersten
Momente so fremdartig entgegentretenden Gebilde eröffnen.
Mit dem Vorstehenden soll aber nicht gesagt sein, dass diese Formen
nicht auch zuweilen nach unseren Begrifen „schörß genannt werden
können, im Gegentheile sind sie gar oft elegant und von origineller Er-
findung der Zeichnung. In solchen Fällen hat eben das von unserer
Weise himmelweit verschiedene Constructionsprincip ein unserem Ge-
schmack zusagendes und congruentes Resultat geliefert, ich möchte aber
doch sehr bezweifeln, ob gerade das, was an solchen chinesischen Kunst-
producten uns gefällt, auch vor den Augen eines chinesischen Kunst-
kenners besondere Anerkennung finden dürfte. Uebrigens sind bei vielen
Gattungen der Vasen die Formen conventionell, und haben sich seit den
ältesten Zeiten nicht geändert, Dank den minutiös genauen Vorschriften
und der strengen Handhabung der Reglements für alle Künstler und
Handwerker. Dass aber doch ein gewisses tektonisches Gefühl den Chi-
nesen nicbt fremd ist, und selbst schon in sehr früher Zeit nicht fremd
war, dafür scheint mir neben manchen anderen Andeutungen besonders
eine Stelle im Tscheu-li ("Riten der Dynastie Tscheu"), die ich als be-
zeichnend hier anführen will, zu sprechen. „Die Thiere, die dicke Lippen
haben und einen breiten Mund, hervorspringende Augen, kurze Ohren,
breite rückwärts zugespitzte Brust, einen grossen Körper und kurzen
Hals, nennt man nackte, oder Thicre mit kurzen Haaren. Gewöhnlich
haben sie grossc Kraft, können aber nicht laufen. Der Ton, den sie
hervorbringen, ist kräftig und wieitschallend. Da sie grosse Krait haben,
aber nicht laufen können, eignen sich ihre Figuren zu Untersätzen
schwerer Gegenstände.. . ." und weiterhin: „Die Thiere, die einen zu-
gespitzten Schnabel haben, einen weitgeschlitzten Mund, lebendiges Auge,
langen Hals, kleinen Körper, gedrückten Bauch, nennt man gefiederte
Thiere. Gewöhnlich haben sie keine Kraft, aber sie sind leicht. Der Ton,
den sie hervorbringen, ist klar, hoch und man hört ihn weithin. Da sie
nicht stark, sondern leicht sind, so eignen sich ihre Figuren zu Unter-