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Marina Ambrovic und Ulay,
Relation in Time (Beziehung in der Zeit), 1977
der die Aktion und ihr Objekt in ihrer gesamten Dimen-
sionalität hervorbringt; und das Objekt lenkt unsere Aufmerk
samkeit auf den Zwischenraum, der zugleich der Ort dieser
Differenz ist. Sicher erlauben uns Aktionen in der Kunst,
Objekte zu schätzen, ja sogar hochzuschätzen, und doch gilt
es noch etwas sehr viel Signifikanteres an der Aktionskunst zu
begreifen. Wittgensteins Beispiel verlangt, daß wir auf das
achten, was übrig bleibt, nachdem wir die Tatsache, daß ein
Kunstobjekt existiert, von der Tatsache, daß eine Aktion die
ses Objekt hervorgebracht hat, abgezogen haben; darin liegt
das oberste Ziel der Aktionskunst.
M.M. Bakhtin versuchte, die »Differenz zwischen dem, was
jetzt ist, und dem, was nach-jetzt ist«, zu verstehen und über
legte, welche Art von Verbindung diese Differenz wohl über
brücken könnte. Hierzu schreibt Michael Holquist;
Bakhtin (suchte) die reine Qualität des Geschehens im
Leben, bevor das Magma einer solchen Erfahrung
abkühlt und zu Theorien aus vulkanischem Gestein
erstarrt, oder davon berichtet, was geschehen ist. Und
genau wie sich Lava von dem Gestein, zu dem sie wird,
unterscheidet, so unterscheiden sich auch die beiden
Zustände der erlebten Erfahrung auf der einen Seite und
der Systeme zur Erfassung solcher Erfahrungen auf der
anderen grundlegend voneinander.'*
Die Objekte, die ’>aus Aktionen« hervorgehen, sind etwas
anderes als die Aktion selbst. Aber selbst wenn sich Lava von
dem Gestein, zu dem sie wird, unterscheidet, ist sie doch
auch das, was sie einst war. In dieser Hinsicht verlängern die
Objekte, die in einer Aktion eingesetzt wurden oder zu Relik
ten einer Aktion geworden sind, die implizite Temporalität, die
im Jetzt erlebt wurde, über das Jetzt hinaus zum Nach-Jetzt.
Auf diese Weise integriert George Brecht in seinen eleganten
und sparsamen Partituren für Events Aktion häufig als
Maßeinheit, die verschiedene physikalische Zustände mit
einander verbindet.
Three Aqueous Events (1961)
ice
water
steam
Wenn jemand eine von Brechts »Event-Partituren« aufführt, so
kann er/sie die Partitur in jeder beliebigen Art und Weise ins
zenieren, die Botschaft lediglich konzeptuell auffassen oder
sie gänzlich ignorieren. Bereits diese Auswahl läßt erkennen.
daß die Zahl der Antworten und Handlungen, die man sich
vorstelien könnte, um Eis, Wasser oder Dampf umzusetzen -
sei es, um ihre Eigenschaften vorzuführen, sie zu verwenden,
zu vertauschen etc. - endlos ist. In Three Aqueous Events
wird die Aktion des Künstlers eingesetzt, um vom Ergebnis
der Divergenz von Handlungen zu künden, die gemeinsam
auf die gleichzeitige Existenz von Differenz in einem Element
verweisen.
Was ich sagen will, ist, daß die Objekte, die aus Aktionen
hervorgehen, beschreiben, inwieweit das, was jetzt ist, auch
mit dem verbunden ist, was nach jetzt kommt, so wie auch
die Zukunft all das miteinschließt, woraus die Vergangen
heit besteht, und was von der Gegenwart als der derzei
tige, wenngleich simultane, transitorische Ort zwischen
den Zuständen manifestiert wird. Der einzigartige Wert
der Aktionskunst besteht darin, daß sie diese Art von
Verbundenheit zum Ausdruck bringt. Das bedeutet je
doch nicht, daß Aktionen dadurch ihres eigenen Kunst
werkcharakters beraubt werden; schließlich ist es eine ästhe
tische Dimension, auf die diese Objekte hinweisen. So sorg
fältig Kunstwerke auch interpretiert wurden - ob in intentio
naler, ikonographischer, ikonologischer, semiotischer, sozial
geschichtlicher oder rezeptionshistorischer Hinsicht - dieses
Phänomen wurde und wird völlig außer acht gelassen.
Aktion ist eine Wahrheit der Kunst. Die Prozesse, die bei der
Herstellung von Dingen zum Tragen kommen, wurden völlig
vernachlässigt, selbstverständlich mit Ausnahme von kunst
historischen Fragestellungen und Fragen nach der materiel
len Machart von Dingen {wie war dieser Kupferstich ent
standen, oder wie funktionierte das antike Verfahren der
»Wachsmalerei“). Diese Elision ist um so bemerkenswerter,
als die marxistische Kunstgeschichte Arbeit gewissenhaft
sowohl in bezug auf die Bedingungen, in denen Kunst pro
duziert wird, als auch auf die künstlerische Darstellung
von Menschen bei der Arbeit betrachtet. So wichtig
diese Betrachtungsweisen und Interpretationsansätze auch
gewesen sein mögen, der Kunstwerkcharakter des künst
lerischen Handelns jedoch, dieser initialen Modalität, von der
ausgehend sich die gesamte Kunst- und Ästhetikgeschichte
entfaltet, wurde übersehen und blieb so lange unbeachtet, bis
die Künstler ihr Interesse auf die Aktion konzentrierten.
Künstler, die Aktionen als Kunst produzieren, haben uns
gelehrt, daß der Kunstwerkcharakter nur ein Index für Kunst
9 Michael Holquist, »Foreword«, zu: M.M. Bakhtin, Towarda
Philosophy of the Act, Übers, und Anmerk, von Vadim Liapunov,
hrsg. von Michael Holquist und Vadim Liapunov, Austin 1993.