528
bringen. Aus fremder Materie wählt die Kunst") und ordnet, was zu
ordnen ist; baut und verbindet, formt und bildet, bringt Form und Farbe
in Einklang. Dass bei diesen Vorgängen in ihrer einfachsten Art die
Natur nur sehr wenig Vorbilder bieten kann, ergibt sich bei näherer Be-
trachtung der technischen Verfahren. Die Bildungen der tektonischen
Kunst finden sich in der Natur nicht vor. Die Natur kann weder weben
noch flechten, noch bauen oder zimmern u. s. w.; es sind ihr daher die
Formen, die sich aus solchen und anderen Techniken von selbst ergeben,
durchaus fremd. Nur im übertragenen Sinne nennt etwa die physio-
logische Anatomie gewisse organische Gebilde Geflechte und Gewebe,
deren Anordnung sie von den Arbeiten der Menschenhand himmelweit
verschieden erscheinen lässt und die ihrem Wesen nach auch der Be-
obachtung durch den Menschen einer nicht weit zurückliegenden Kunst-
epoche gänzlich unzugänglich sein mussten. Mag nun das Formen und
Verbinden einzelner Theile was immer für einer Materie wirklich statt-
finden oder durch die graphische Darstellung von Linien und Flächen
nur ideell versinnlicht werden, immer haben wir es mit der Bethätigung
eines Princips zu thun, zu der kein Mensch durch lmpulse genöthigt
wird, die er sich bei Betrachtung der Formen der Außenwelt holt. Maß-
gebend für das Thun des zuerst schaffenden sind die Eigenschaften der
Materie, die er durch Erfahrung kennen gelernt und seinen Zwecken
dienstbar gemacht hat; der inneren Nöthigung gehorchend, betritt er
dabei Pfade, die ihn auf das Gebiet des Bedeutsamen und Schönen
führen.
Das Princip des Formens und Fügens auf seine einfachste AeuBe-
rungsart zurückgeführt, das constructive Princip, waltet in jeder
der bis jetzt durchlaufenen Kunstperioden. Die Zierformen, auch der
modernsten Richtung, kommen ohne jegliche systematische Construction
nicht aus. Sind die Elemente der Zierformen was immer für einem
Schatze entlehnt, sind sie nun der Natur entnommen oder frei erfunden,
immer wieder drängt sich dem Künstler die Nöthigung auf, bei ihrer
Verwendung Ordnung walten zu lassen; sich die Motive seiner Ornamente
erst nach passender Auswahl zurecht zu legen, um sie sodann in zweck-
entsprechende Anordnung zu bringen. Auch die scheinbar sich völlig frei
und zwanglos präsentirenden Gebilde, viele Individuen der Thierwelt und
vor Allem die Gestalt des Menschen, unterliegen den allgemeinen Ge-
setzen künstlerischer Anordnung, der Raumvertheilung und Linienfüh-
rung n. s. w. vor Allem dann, wenn sie sich dem Gefüge des Ornaments
beigesellen oder selbständig als Zierforrn auftreten sollen. Regellose Ver-
wendung irgendwelcher Form als Ornament kann ebeusowenig als Kunst-
') Es scheint mir, dass schon bei Giordnno Bruno, d: lmmenso e! lnnumerabili,
8, m. der Gedanke vollständig zum Ausdruck gebracht ist: Ars trlctat muterium uliensm;
nntun muterinm proprinm. Ars circa materiam est; natura interior muten" e.