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Die Hantirung rnit Zirkel und Richtscheit ist es, aus der hier die
erste und beste Anleitung entspringt; Alles, was bei derlei Gebilden an
Naturformen hineingeklligelt wird, hat nicht mehr zu bedeuten, als die
Gesichter, die in einem Liniengeflechte ihren Spuk treiben.
Zirkel und Richtscheit waren es auch, denen insbesondere der
islamitische Orient den weitaus wichtigsten Tlieil seiner Ornamentik
zu verdanken hat. Sowohl die agglutinirenden, als auch die der Flecht-
technik entlehnten Formen der arabischen Kunst wären einfach unmöglich.
sollten sie unter der Bedingung geschaffen werden, die Erscheinungen
irgend welcher Naturerzeugnisse zur Grundlage ihrer Herstellung zu ver-
wenden.
Die Ursache, warum bei so vielen Zierformen, sowohl abendländischen
als morgenländischen Ursprungs, die Vorbilder so vielfach als der Natur
entnommen bezeichnet werden, liegt nur darin, dass man die Gebilde
nicht in ihrer Totalität betrachtete, sondern nur auf ihre allerdings viel-
deutigen Einzelheiten untersuchte, wobei mitunter wieder die Phantasie
das Unglaublichste zu Tage fördern konnte.
Um das Ornament zu verstehen, geht es eben nicht an, es in seine
kleinsten Bestandtheile zu zerpflücken, denn allein in der Art, wie diese
zusammengefügt sind, liegt ihr eigentliches Wesen, ja die Berechtigung
ihrer Existenz. Auch das scheinbar freieste Zierwerk, wie es uns etwa
in der Kunst der Japaner entgegentritt, entsteht nicht im Geringsten ohne
Regel; aber die heutzutage zwar noch empfundene, doch äußerst
selten begriffene regelrechte Einführung der zusammengesetzten Formen
tritt hier so discret, so ganz und gar nicht lärmend auf, dass der unein-
geweihte Beschauer an ein Spiel des Zufalls glaubt, wenngleich alle, auch
die nebensächlichsten Formen, mit weiser Ueberlegung angeordnet und
durchgebildet sind. Diese Thatsache ist um so leichter begreiflich, als
das constructive Princip sehr oft selbst dann nur schwerfällig aufgefasst
wird, wenn es, wie bei den meisten der europäischen Ornamentations-
weisen, verhältnissmiißig stark betont erscheint.
Es war schon früher von den sogenannten Empiindungslinien die
Rede, den Resultanten, die nicht sichtbar dargestellt zu sein brauchen,
aber als das Ergebniss der Gesammterscheinung einer Form vom Auge
empfunden werden, als der Hauptrichtung und Wendung dieser Form
(ihrem wZugea, wie man auch zu sagen pflegt) entsprechend.
Versuchen wir es bei Bildern von Ornarnentformen verschiedenen
Ursprungs, diese Linien mit einer deutlich sich abhebenden Farbe einzu-
zeichnen, so erhalten wir eine Versinnlichung des nackten constructiven
Principes, das dem betreffenden Ornamente zu Grunde liegt; die Con-
struction dieser Linien bildet, wie schon gesagt, das Gerippe und Gerüste
als Träger all" der dargestellten Dinge, die in mehr oder wenige: freier
Wahl gefügt und geordnet eben das Ornament ausmachen.