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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe X (1895 / 3)

hohen Räume in absolut sicherer Weise mit Wölbungen zu über- 
spannen lehrte. 
Hier haben wir nun ein Beispiel, dass eine thatsächlich fremde 
Kunstweise - nicht eine nächstverwandte - zur Einführung gelangt ist, 
eine fremde Kunstweise, die zugleich eine Bereicherung, einen Aufschwung 
bedeutete. Und doch ist es bisher noch Niemandem eingefallen, diese 
Einführung der Gothik nach Italien als eine Renaissance zu bezeichnen. 
Wir müssen uns daher fragen, wodurch unterscheidet sich dieser Process 
des Aufkommens einer neuen Kunstweise von demjenigen, welcher dem 
Aufkommen der karolingischen Renaissance und der toscanischen Proto- 
renaissance zu Grunde gelegen hatte? Der grundsätzlichen Unterschiede sind 
zwei: i. Der Uebergang zu dem Neuen d. i. zur Gothik, ist in Italien nicht 
sozusagen im Verlaufe der normalen Entwicklung erfolgt, wie jene Renais- 
sancen, sondern jäh und unvermittelt, gleichsam durch einen plötzlichen Ruck. 
Nicht die italienischen Künstler sind selbst, aus künstlerischen Erwägungen 
heraus, allmälig zu einem Verständnis für die gothischen Formen gelangt, 
sondern diese Formen haben sich gewaltsam, in ihrem unwiderstehlichen 
Siegeslaufe durch Europa, den italienischen Künstlern aufgedrängt. 
2. Die Formen, deren Nachahmung man sich zuwandte, waren nicht 
aus einer früheren heimischen, nicht aus der römisch-antiken, nicht aus 
einer nächstverwandten Kunstweise entlehnt, sondern von einer dem 
Wesen nach fremden, einem anderen Boden entwachsenen, unter anderen 
äußeren Verhältnissen herangebildeten und zur Reife gediehenen Kunst. 
Auf die vorübergehende Herrschaft des gothischen Stiles in ltalien er- 
folgte nun die Begründung derjenigen Kunstweise, die wir die vRenaissanceu 
im engeren Sinne nennen. Und zwar denken wir dabei zunächst an die 
italienische Renaissance, die nicht blos zeitlich der deutschen, franzöv 
sischen u. s. w. Renaissance vorangeht, sondern auch an kunsthistorischer 
Bedeutsamkeit jeder anderen Renaissance unvergleichlich überlegen ist. 
Aber selbst innerhalb dieser italienischen Renaissance der neueren 
Zeit haben wir eine sachliche Beschränkung vorzunehmen. Man spricht 
von einer Frührenaissance, einer Hochrenaissance und einer Spät- 
renaissance in Italien. Eine Renaissance im eigentlichen Sinne ist aber 
blos die Frührenaissance gewesen. Die Hochrenaissance umfasst schon 
das volle Heranreifen derjenigen Formen, die in der Frührenaissance zur 
ersten Blüthe und Entfaltung gelangt waren. Sie kann also nicht mehr als 
eine Wiedergeburt gelten, denn sie bedeutet bereits eine Vollendung, eine 
Reife. Vollends gilt dies von der Spätrenaissance, die ein ganz selbständiges 
Producr der Weiterentwicklung der Hochrenaissance gewesen ist, ähnlich 
wie im mittelalterlichen Norden der gothische Stil das selbständige 
Product der Weiterentwicklung des romanischen Stils. Wir werden also 
unsere nächsten Betrachtungen blos auf die italienische Früh- 
renaissance, das sogenannte Quattrocento, zu beschränken haben. 
(Fortsetzung folgt.)
	        
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