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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe X (1895 / 3)

Schrift, deren man sich im 8. Jahrhundert im Frankenreiche bediente, 
war die lateinische, wie sie sich in den letzten Jahrhunderten der Römer- 
herrschaft ausgebildet hatte, aber der äußere Charakter derselben hatte 
sich doch seither etwas unvortheilhaft geändert; während der Stürme der 
Völkerwanderung war nämlich der Schulunterricht fast vollständig unter- 
gegangen und in Folge dessen die Schrift dermaßen verwildert, dass sie 
kaum mehr leserlich schien. Karl der Große ließ nun Schreibschulen 
errichten, in denen der Unterricht nach vorbildlichen Handschriften des 
4. und 5. Jahrhunderts. also nach Handschriften aus der spätrömischen Zeit 
ertheilt wurde. Aehnlich verfuhr man mit der lateinischen Sprache selbst, 
die auch inzwischen zu einem Kauderwelsch verballhornt worden war, 
ähnlich hinsichtlich der Bibeltexte, die in Folge der Sprachverwilderung 
verderbt worden waren. Stets waren es spätrömische Handschriften des 
4. und 5. Jahrhunderts, und nicht etwa solche aus der früheren Kaiser- 
zeit oder gar aus der vorchristlichen Aera, die man dem Unterrichte 
und den Verbesserungsversuchen zu Grunde legte. 
Ganz das gleiche Bestreben wurde nun auf dem Gebiete der Kunst 
eingeschlagen. Das bekannteste Denkmal aus der Zeit Karls des Großen 
ist die noch heute existirende Münsterkirche zu Aachen. Es ist ein 
Centralbau, völlig gemäß den spätrömischen Bauprincipien aufgeführt. 
Diese Kirche bedeutet in gar keiner Weise eine gewaltsame Unterbrechung 
der Kunstentwicklung, wie es z. B. ein Bau in den Formen eines 
griechischen Tempels gewesen wäre, sie reiht sich vielmehr zwanglos in die- 
selbe ein; es dachte eben niemand daran, die Kunstentwicklung gewaltsam 
in ganz neue Bahnen zu lenken. Aber der Bau repräsentiert doch zugleich 
eine Renaissance, denn es war seit Jahrhunderten wieder einmal der erste 
Bau im Frankenreiche, der nicht sozusagen als Nothbau, sondern aus 
wahrhaft monumentalen Absichten heraus, und daher unter Anlehnung 
an frühere monumentale Denkmäler dieser Art geschaßen wurde. Also 
keine gewaltsame Abkehr von dem Gewordenen, wohl aber Verbesserungen 
im Einzelnen, an der Hand von Denkmälern zwar einer früheren, aber 
dabei doch nächstverwandten Kunstweise: das ist die Signatur dieser 
karolingischen Renaissance. Das Endresultat war aber, dass dieselbe in 
der Folgezeit zu einer sehr veränderten, gewissermaßen in der That 
neuen und fruchtbaren Kunstweise - der romanischen und der gothischen 
- geführt hat, was ursprünglich gar nicht in der bewussten Absicht der 
karolingischen Künstler gelegen war. 
Die Kunstgeschichte des Mittelalters kennt aber noch eine zweite 
Renaissance: es ist dies die sogenannte Protorenaissance im u. und 
12. Jahrhundert. Das Wort Protorenaissance bedeutet soviel wie rVorläufer 
der Renaissanceu, d. h. Vorläufer der großen italienischen Renaissance des 
15. Jahrhunderts. Der Schauplatz dieser Protorenaissance war Toscana, ins- 
besondere Florenz und Pisa, in einem beschränkteren Maße auch die 
Stadt Rom. Das Wesen dieser toscanischen Renaissance ist so ziemlich
	        
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