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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe X (1895 / 4)

praktischen Bedürfnisse entsprachen, und nicht die antiken Tempel. Der 
italienische Palastbau hat seine monumentalen Anfänge gerade in der 
gothischen Zeit gefunden; und diese gothischen Anfänge hat die floren- 
tinische Frührenaissance im 15. Jahrhunderte unmittelbar weiter fort- 
geführt, ohne nach antiken Vorbildern für den Palastbau auch nur zu 
fragen. Es wäre gar Niemandem beigefallen, um der Begeisterung für die 
Antike willen, einer Kirche oder einem anderen öffentlichen Gebäude, 
geschweige denn einem privaten Wohngebäude die Form eines römischen 
Tempels zu geben. 
Aber noch mehr. Wir finden in der ganzen italienischen Renaissance 
keine Spur, dass man der altgriechischen, der hellenischen Architektur 
eine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Und doch standen damals, wie 
noch heutzutage, auf italienischem Boden griechische Tempel aus der 
voralexandrinischen Zeit, zum Theil von ganz vortreiilicher Erhaltung 
aufrecht; auf dem Festlande, in der Nähe des volkreichen Neapel, die 
Tempel von Pästum, in Sicilien diejenigen von Girgenti, Selinus, Segesta 
u. s. w, Selbst zur Zeit der Hochrenaissance, als Ratfael die antiken 
Denkmäler planmäßig zu verzeichnen unternommen hatte, hat man den 
griechischen Tempeln keine Beachtung geschenkt. Diese Gleichgiltigkeit 
gegenüber den wahren Meisterschöpfungen antiker Architektur müsste 
auEallend, ja unbegreiflich erscheinen, wenn es den Renaissance-Italienern 
um die Antike allein, um ihrer selbst willen, um ihres historischen 
Ansehens, ihrer vermeintlich unantastbaren und unverrückbaren Schön- 
heitsgesetze willen, zu thun gewesen wäre. 
Die Renaissance-Italiener müssen die Tempel von Pästum und auf 
Sicilien zweifellos gekannt haben, aber diese Tempel traten ihnen als 
fremdartige Gebilde entgegen. Die griechischen Tempel der voralexan- 
drinischen Zeit gehören einer Stilweise an, die von der antik-römischen 
durch eine weit größere Kluft getrennt ist, als diese von der Renaissance. 
Der spätantiken Kunst der römischen Kaiserzeit fühlte sich die italienische 
Renaissance verwandt; die griechischen Tempel von Pästum mochten ihr 
dagegen kaum minder fremdartig vorkommen, als wie die Tempel der 
alten Egypter. Und selbst wenn man die historische Stellung der grie- 
chischen Tempel gegenüber den römischen, wenn man die unmittelbare 
Zusammengehörigkeit auch der griechischen Tempel mit der antiken 
Bauweise gekannt hätte, würde man sie vielleicht gebührender litterarisch 
geschätzt, aber praktisch kaum in höherem Maße zur Nachahmung ver- 
wendet haben. 
Es handelte sich eben der italienischen Renaissance des 15. Jahr- 
hunderts keineswegs darum, ein Fremdes auf die eigene Kunst aufzu- 
pfropfen. Hatte man doch soeben das Gothische entfernt, weil es in die 
hergebrachte, dem nationalen Empfinden entsprechende Kunstweise nicht 
zu passen schien. Man hätte nur Fremdes mit Fremdem eingetauscht, 
wenn man die wuchtigen dorischen Säulen mit ihren, nur für halb-
	        
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