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Gezogene, das Schmalleibige, das Spießige der Buchstaben; aber diese
Charakterzüge sind im Süden doch nicht so völlig schroff ausgeprägt.
Gerade so wie die italienisch-gothischen Dome nicht einseitig himmelhoch
emporstrehen wie die nordischen, sondern stets noch ein gewisses behag-
liches Strecken in die Breite beibehalten, so hat auch die Schrift in der
Tendenz, die Buchstaben aus engegestellten Verticalstrichen zusammen-
zusetzen, in Italien allezeit ein bestimmtes Maß beobachtet. Nun kommt
das 15. Jahrhundert. Die italienischen Humanisten, die eine umfangreiche
literarische Thätigkeit entfalten, finden die gothische Schrift ihrem
Geschmacke nicht mehr zusagend. Sie suchen nach einer Schrift, die
ihrem neuerwachten nationalen und künstlerischen Empfinden entspräche.
Wäre die Begeisterung für die Antike allein, um ihrer selbst willen,
ausschlaggebend gewesen, so hätte man gewiss eine der altrömischen Mo-
numentalschriften gewählt: entweder die sogen. Capitale oder die Unciale,
oder doch die spätrömische Halbunciale. Aber man wählte nichts von
alledem, sondern man griE nach der romanischen Schrift etwa des iz. Jahr-
hunderts, nach der Schrift der Protorenaissance. Man knüpfte an den
Punkt an, auf welchem man durch das Eindringen des fremden gothischen
Stils gewissermaßen von der geraden Linie der Entwicklung abgedrängt
worden war. Und man erwäge dabei, dieser Process vollzog sich ganz
allgemein und ganz spontan, nicht etwa in Folge der Verabredung
einiger Weniger untereinander. Es lag also sozusagen in der Luft, und
trat mit einer gewissen Naturnothwendigkeit ein, sobald die Verhältnisse
dazu reif geworden waren.
Ganz von den gleichen Anschauungen und Empfindungen ließen
sich die Italiener des 15. Jahrhunderts auf dem Gebiete des eigentlichen
Kunstschaßens leiten. Was gut schien an den Werken der Protdrenaissance,
das wurde auch hier verwendet; nur brachte es die größere Vielgestal-
tigkeit der nunmehrigen künstlerischen Aufgaben mit sich, dass man auf
diesem Gebiete auch noch weiter zurück, nach der römischen Antike-
greifen musste und in der That gegriffen hat. Aber niemals ward die
Nachahmung der Antike zum Selbstzweck; immer war es das neue
Werk, das man für seine eigenen, sozusagen modernen Zwecke hervor-
zubringen hatte, das den Ausschlag gab. Ja noch mehr: die Antike hörte
sofort auf, als vorbildlich zu gelten, wo man die innere Verwandtschaft
eines antiken Denkmals mit dem eigenen Kunstschaffen vermisste.
Es ist schon überaus charakteristisch für die italienische Renaissance,-
dass sie nicht ein einziges Mal versucht hat, einen antiken Tempel nachzus-
bilden. Man lernte alles mögliche an den erhaltenen Tempeln der Römer-
zeit, aber die äußere Structur derselben im Ganzen hat man niemals-
nachgeahmt. Man hatte eben andere monumentale Bauformen, die Basilikery;
die Paläste, die Formen, die zwar zum Theile noch in der spätestentä
Antike (wie die Basiliken), zum Theil aber sicher erst im Mittelalter
geschaffen wurden; diese waren die Typen, die dem herrsehendem.