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unser geistiges Brot muss durch mühevolle Denkarbeit erlangt werden,
aber wir müssen darauf bedacht sein, den Lernenden nicht zu ermüden
und zum ernährenden Fruchtgenusse unfähig zu machen, was durch
herabstimmendes und zu weit getriebenes Theoretisiren ebenso möglich
wäre, als durch ein unnöthiges Hinausschieben des Lehrzieles. Wir er-
reichen unsern Zweck durch Uebertragen des theoretischen Motivs
auf das praktische Beispiel, und zwar im Wege eindringlicher
Vorträge und figurenreicher Entwürfe an der Tafel. Wir lehren
unter beständiger Festhaltung der wissenschaftlichen Principien auch noch
so, wie es die Werkstätte und das Atelier erfordert, also nach einer
Lehrweise, die Jeder erst selbst aus dem Grunde lernen muss, der ein
Collegium von Praktikern vor sich hat, die das auch können wollen, was
sie können müssen. Diese Führung des öffentlichen Lehrdienstes
lässt dem Lernenden den Unterricht auch in den als Hilfsfächer be-
zeichneten Gegenständen bedeutungsvoll erscheinen.
Die beispielsweise an der Wiener Kunstgewerbeschule unter Befolgung
eben erörterter Unterrichtsprincipien erzielten Erfolge wirken so ermun-
ternd, dass es nicht Wunder nehmen darf, wenn das auf die einschlägige
Lehrpraxis aufmerksam gewordene Ausland diese günstigen Resultate
mit Interesse verfolgt und nachstrebend nützt. So ist durch das ziel-
bewusste Zusammenwirken der verschiedenen Kräfte in Wien diese Schule
als moderne Errungenschaft ausgestaltet und herangereift, deren Ruf
die Grenzen des Vaterlandes überschritt und dermalen als nachahmungs-
würdige Institution gelten kann. Sie kommt dem idealen Streben der
Culturvölker zu Nutzen und beweist durch die Tüchtigkeit ihrer Anlage
und ihrer vorsorglichen Weiterbildung auch in diesem Zweige die gestal-
tende Kraft unserer Unterrichtsverwaltung!
Allerdings brauchte es Jahre, ehe das Unterrichtsbild in den be-
zogenen Fächern das heutige Ansehen gewann. Wie Strich um Strich
nötbig ist, um ein Bild zu gestalten, so war Lehrversuch um Lehrversuch
nöthig, um das System auszuprägen und zum Ganzen zu zimmern. Die
Schulstube wurde so, neben der Absolvirung der Erfordernisse des laufen-
den Unterrichtes, zu einer im eigentlichen Wortsinne zu nehmenden Ver-
suchsanstalt für constructives Zeichnen und für Auffindung
und Ausbildung möglichst einfacher Darstellungsmethoden.
-- Grundlegende Versuche im Körperzeichnen wurden aller Orten
unternommen, an bemerkenswerther Stelle vornehmlich an der Salzburger
Staatsgewerbeschule, die, später nach Wien verpflanzt, in dem Darstellen
perspectivischer Gebilde und einer hieraus sich entwickelnden Zeichenart
ihrem originellen Abschlusse zugeführt wurden.
Ein weiteres Erforderniss der neuzeitlichen Darstellungskunst ist
die Lösung der Aufgabe: das Flächliche im Wege des Modellirens
zum Räumlichen zu bilden. Man unterscheidet sofort die zwei
Hauptlösungen: Von in der Natur vorhandenen Objecten maß-
i!