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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe IX (1894 / 5)

verfolgt ihren eigenen krausen Weg, bald da-, bald dorthin ablenkend, 
aber nirgends brutal und unvermittelt, sondern allmälig in schön ge- 
schwungener Bogenlinie. Ganz den gleichen Charakter trägt die orna- 
mentale Pflanzenranke zur Schau; aber sie ist doch ganz was anderes, 
sie ist weit mehr als eine bloße Nachbildung einer natürlichen Pflanzen- 
ranke. Diese letztere - die natürliche Pfianzenranke - bewegt sich 
anscheinend vollkommen frei, oder vielmehr - wenn wir im Sinne der 
modernen naturwissenschaftlichen Erkenntniss sprechen - sie gehorcht 
zu gleicher Zeit den Tausenden von Naturgesetzen, die in verschiedener 
Stärke und in wechselnder Folgevon allen Seiten auf sie einwirken: 
hier ihr Vorwärtsstreben fördernd, dort hemmend, da anlockend, dort 
neue Bahnen weisend. Dagegen gehorcht die ornamentale Pflanzenranke 
nur einem Gesetze, das aber der Bewegung um so engere Grenzen 
zieht: als stilisirte Ornamentform hat sie sich dem Gesetze der 
symmetrischen Bildung zu fügen. Die undulirende Bewegung, wie sie 
auch der natürlichen Ptlanzenranke eigen ist, leistet einer symmetrischen 
Bildung unverkennbaren Vorschub, aber diese Bewegung wird im Orna- 
ment strenge abgemessen, während sie an der natürlichen Pflanzenranke 
in Tempo und Richtung völlig unregelmässig. also anscheinend völlig 
frei verläuft. Eine streng abgemessene Wellenbewegung der Ranke ist 
in der Natur nirgends vorhanden; ihre Einführung in die decorative 
Kunst ist also nicht einem bloßen Abschreiben einer Naturerscheinung 
zu danken, sondern sie ist wesentlich als die freie Erfindung menschlichen 
Kunstgeistes zu betrachten. 
Man sollte nun denken, dass es keines besonderen Aufwandes von 
künstlerischer Erfindungsgabe bedurft hätte, um die vermeintlich so ein- 
fache wellenförmige Rankenverbindung in das Pflanzenornament ein- 
zuführen. Und doch lehrt eine Ueberschau der ornamentalen Leistungen 
der Völker des Alterthums, dass es Jahrtausende gewährt hat, bis man 
endlich die erlösende Formel gefunden hatte, - dass höchst bedeutende, im 
Kunstschaffen ergraute Völker sich vergebens nach dieser Richtung ab- 
gemüht haben, bis es endlich einem augenscheinlich noch jungen, aber 
thatkräftig aufstrebenden Volke - dessen Nachkommen es freilich vor- 
behalten war, später in der Kunst den gewaltigsten und unermesslichsten 
Schritt zu thun. den die Menschheit bisher überhaupt zurückgelegt hat- 
gleichsam spielend gelungen ist, den einfachen, aber in seiner folgen- 
schweren Bedeutung doch so entscheidenden Wurf zu thun. 
Die alten Aegypter, die die ersten nachweisbaren ornamentalen 
Pllanzenmotive überhaupt geschaffen haben, sind auch von der bloßen 
Reihung derselben zu einer fortlaufenden Verbindung übergegangen. 
Und zwar begegnen wir im altägyptischen Pßanzenornament mehreren 
Arten von Verbindung der Motive untereinander. Die reifste Frucht 
der diesbezüglichen Bestrebungen der Aegypter war der Bogenfries. 
Die einzelnen Motive erscheinen hierbei durch fortlaufende Bogenlinien
	        
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