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für eine vorzuweisende, nicht an Ort und Stelle befindliche Erscheinung,
ja wohl auch zur Versinnlichung des blos Gedachten zeigt, hat unzweifel-
haft den Anspruch, eine Zeichnung genannt zu werden. ln Anbetracht der
unendlich mannigfaltigen Stadien der Entwicklung zeichnerischer Thätig-
keit bei den verschiedenen Völkern aller Zeiten entrollt sich hier vor
unserem Auge ein Bild gewaltiger Ausdehnung, zeigt sich ein Feld für
die Forschung, dessen Fruchtbarkeit eine schier unerschöpfliche genannt
werden muss. Der historischen, kunstphilosophischen, physiologischen und
psychologischen Wissenschaft erschließen sich auf diesem Felde wichtige
Quellen; die Paläographie fußt zum Theil auf den Ergebnissen, welche
das Studium der Anfänge der Zeichenkunst zu Tage fördert: Der Mensch
ist das einzige Thier, dessen Erkenntnissvermögen ihm den BegriE des
Abbildes zum Bewusstsein bringt, das einzige, welches mit Hilfe des
Gesichtssinnes das Gebilde auf der Fläche als Projection einer Er-
scheinung zu erkennen vermag. Diese Thatsache allein spricht schon
laut genug für die Wichtigkeit, welche die Anthropologie dem Studium
der Zeichenkunst beizumessen hat.
Ich muss es mir versagen, die Relationen dieser Aeußerungsform
der Kunst mit Forschung und Wissenschaft weiter zu berühren, so nahe
auch hiezu die Versuchung liegen mag. Dem mir vorläufig gesteckten
Ziele entsprechend habe ich weiter nichts zu thun, als die Zeichenfertig-
keit als solche in Betracht zu ziehen, und weiters jene Modalitäten zu
untersuchen, unter welchen sie aus dem Stadium, sich selbst Zweck
zu sein, heraustritt und in unserem Falle hauptsächlich rnit Rücksicht
auf die Erfordernisse des Kunstgewerbes als Mittel zum Zweck einer
erweiterten Reihe von Anforderungen zu entsprechen geeignet wird.
Wenn ich hiebei auf einzelne wichtige Facten ihrer geschichtlichen
Entwicklung hinweise, so geschieht dies zunächst nur, um einestheils den
Umstand näher vor Augen zu rücken, dass die Aeußerungen der Zeichen-
fertigkeit nicht constant auf identische Ursachen mehr oder weniger zwin-
gender Art zurückzuführen sind, anderntheils aber auch dementsprechend
mit der stets sich verrnehrenden Fülle ursächlicher Beweggründe die Her-
vorbringungen der Zeichenfertigkeit nach jeder Richtung hin betrachtet
einem steten und unausgesetzten Wandel unterworfen waren. Hiebei
kann ich freilich nicht vermeiden, auf mehreres von mir schon früher
an dieser Stelle Vorgebrachte, wenn auch nur flüchtig, zurückzukommen.
Vor Allem muss ich wiederholen, dass jegliche bildende, d. h. bild-
schöpferische Thätigkeit des Menschen in ihren Uranfängen niemals
von dem Bestreben ausgeht, die Natur nachahmen zu wollen.
Abgesehen von jenen Kunstäußerungen, welche sich mit der Verzierung
von Objecten unter Zuhilfenahme der primitivsten, nach bestimmter Aus-
wahl und in befriedigender Ordnung angebrachten Formelemente befasst
und hiemit nur einer physiologischen Nöthigung, einem Triebe gehorcht,
ist auch an eine Wiedergabe irgend welcher natürlichen Erscheinung in