312
greifen, deren Stilgrenzen weit weniger, als dies bei der Wirkerei der
Fall war, durch die Technik selbst gezogen waren, so dass eine Ueber-
schreitung dieser Stilgrenzen bei der außerordentlich gesteigerten Pro-
duction gar nicht zu vermeiden war. Ein Gegengewicht gegen die somit
von Anbeginn drohende Verrückung der Stilgrenzen seitens der Stickerei
lag zunächst in der vorwiegenden Verwendung der schmiegsamen Seide,
deren Fäden man im Plattstich fast völlig flach nebeneinander hinlegen
konnte, ohne dadurch in der Darstellungsfähigkeit behindert zu sein. In
dieser Beziehung sind bekanntlich die chinesischen und japanischen Seiden-
llachstickereien mustergiltig für alle Zeiten. So sehen wir auch während
der Renaissancezeit den Plattstich noch wesentlich auf die Seidenstickerei
beschränkt, während dagegen die gröbere Garnstickerei den Kreuzstich
mit seinen gebundeneren, herkömmlich stilisirten Mustern gebraucht-
Aber schon im 17. Jahrhundert erscheint der Plattstich bereits auf das
gröbere Garn ausgedehnt, werden die Blumenmuster immer naturalistischer,
das Relief erhöht sich, kräftige Schnürchen treten an die Stelle der
flachen Flockseide. Inmitten der allgemeinen Lockerung und Auflösung
der Stilgrenzen vergisst auch der Kreuzstich, dass seine Existenzbe-
rechtigung an die Fadenkreuzungen des Leinengrundes geknüpft ist, und
versucht sich in geschwungenen Conturen und naturalistischen Dar-
stellungen. Das Uebel blieb aber nicht auf die Stickerei allein beschränkt;
die Stickerei hatte nämlich seit der Renaissance überhaupt die führende
Stellung in der Textilkunst übernommen, und die auf dem Hauptgebiete
eingerissenen Ausschreitungen mussten sich naturgemäß auch auf die
übrigen textilen Techniken verpflanzen, soweit dieselben nicht etwa, wie
die Spitzennäherei, unmittelbar aus dem so beschaEenen Charakter der
Zeit (venezianische Reliefspitze) hervorgegangen und diesem daher auch
stilistisch vollkommen angepasst waren.
Namentlich die europäische Teppichweberei hatte im Laufe der
Zeit den Charakter der tlachgemusterten Decke immer mehr vernach-
lässigt, als man nun um die Mitte unseres Jahrhunderts zur Besinnung
kam und einen Vergleich anstellte zwischen den europäischen gewebten
Teppichen mit Thierlandschaften oder Genrescenen in ihrer unerfreu-
lichen Colorirung, und den orientalischen Knüpfteppichen mit ihren
geometrischen oder stilisirten Rankenornamenten und ihrer wenngleich
lebhaften, so doch harmonischen farbigen Ausstattung. Man musste in
der Geschichte der europäischen Textilkunst weit zurückgehen, um Flach-
muster von einer ähnlichen Reinheit zu finden; die orientalischen Teppich-
muster boten sich dagegen bis in die Gegenwart ganz ungesucht in un-
erschöpflicher Mannigfaltigkeit dar. Es kam noch hinzu, dass Semper in
seinen Untersuchungen über den Stil in der textilen Kunst, allerdings
mehr in intuitiver Ahnung, als auf Grund empirischer Wahrnehmungen
in den orientalischen Teppichen die Elemente des gesammten Tapezier-
wesens der Alten erkannt hat. So empfahl sich der orientalische Teppich