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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe V (1890 / 10)

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greifen, deren Stilgrenzen weit weniger, als dies bei der Wirkerei der 
Fall war, durch die Technik selbst gezogen waren, so dass eine Ueber- 
schreitung dieser Stilgrenzen bei der außerordentlich gesteigerten Pro- 
duction gar nicht zu vermeiden war. Ein Gegengewicht gegen die somit 
von Anbeginn drohende Verrückung der Stilgrenzen seitens der Stickerei 
lag zunächst in der vorwiegenden Verwendung der schmiegsamen Seide, 
deren Fäden man im Plattstich fast völlig flach nebeneinander hinlegen 
konnte, ohne dadurch in der Darstellungsfähigkeit behindert zu sein. In 
dieser Beziehung sind bekanntlich die chinesischen und japanischen Seiden- 
llachstickereien mustergiltig für alle Zeiten. So sehen wir auch während 
der Renaissancezeit den Plattstich noch wesentlich auf die Seidenstickerei 
beschränkt, während dagegen die gröbere Garnstickerei den Kreuzstich 
mit seinen gebundeneren, herkömmlich stilisirten Mustern gebraucht- 
Aber schon im 17. Jahrhundert erscheint der Plattstich bereits auf das 
gröbere Garn ausgedehnt, werden die Blumenmuster immer naturalistischer, 
das Relief erhöht sich, kräftige Schnürchen treten an die Stelle der 
flachen Flockseide. Inmitten der allgemeinen Lockerung und Auflösung 
der Stilgrenzen vergisst auch der Kreuzstich, dass seine Existenzbe- 
rechtigung an die Fadenkreuzungen des Leinengrundes geknüpft ist, und 
versucht sich in geschwungenen Conturen und naturalistischen Dar- 
stellungen. Das Uebel blieb aber nicht auf die Stickerei allein beschränkt; 
die Stickerei hatte nämlich seit der Renaissance überhaupt die führende 
Stellung in der Textilkunst übernommen, und die auf dem Hauptgebiete 
eingerissenen Ausschreitungen mussten sich naturgemäß auch auf die 
übrigen textilen Techniken verpflanzen, soweit dieselben nicht etwa, wie 
die Spitzennäherei, unmittelbar aus dem so beschaEenen Charakter der 
Zeit (venezianische Reliefspitze) hervorgegangen und diesem daher auch 
stilistisch vollkommen angepasst waren. 
Namentlich die europäische Teppichweberei hatte im Laufe der 
Zeit den Charakter der tlachgemusterten Decke immer mehr vernach- 
lässigt, als man nun um die Mitte unseres Jahrhunderts zur Besinnung 
kam und einen Vergleich anstellte zwischen den europäischen gewebten 
Teppichen mit Thierlandschaften oder Genrescenen in ihrer unerfreu- 
lichen Colorirung, und den orientalischen Knüpfteppichen mit ihren 
geometrischen oder stilisirten Rankenornamenten und ihrer wenngleich 
lebhaften, so doch harmonischen farbigen Ausstattung. Man musste in 
der Geschichte der europäischen Textilkunst weit zurückgehen, um Flach- 
muster von einer ähnlichen Reinheit zu finden; die orientalischen Teppich- 
muster boten sich dagegen bis in die Gegenwart ganz ungesucht in un- 
erschöpflicher Mannigfaltigkeit dar. Es kam noch hinzu, dass Semper in 
seinen Untersuchungen über den Stil in der textilen Kunst, allerdings 
mehr in intuitiver Ahnung, als auf Grund empirischer Wahrnehmungen 
in den orientalischen Teppichen die Elemente des gesammten Tapezier- 
wesens der Alten erkannt hat. So empfahl sich der orientalische Teppich
	        
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