213
sowohl durch seine heutige BeschaiTenheit, als auch durch seine be-
deutsame Vergangenheit als Muster und Vorbild für die fiachgemusterte
Decke, und wurde auch in der Folge zum wirksamsten Hebel der auf
eine Reform des Kunstgeschmacks und der kunstgewerblichen Production
gerichteten Bestrebungen unseres Zeitalters.
Freilich wer sich der gewonnenen Erkenntniss von der Vortreff-
lichkeit der orientalischen Teppiche gegenüber den modernen europäischen
praktisch erfreuen wollte, der mochte und durfte nicht warten, bis ihm
die reforruirte europäische Teppichindustrie einen Teppich von ähnlichen
Vortreiflichlteit zu liefern vermochte. Denn abgesehen davon, dass es
keineswegs das Ziel jener mehrfach erwähnten Reform sein konnte, die
Werke vergangener oder exotischer Kunstübungen lediglich copirend
nachzuahmen, gab und gibt es noch gewisse schwerwiegende Umstände,
die überhaupt eine Verpflanzung der orientalischen Teppichindustrie mit
ihren technischen Eigenthümlichkeiten und den dadurch bedingten Reizen
auf europäischen Boden ziemlich aussichtslos erscheinen lassen. Wer
in den Fünfziger oder Sechsziger Jahren einen Teppich von den künst-
lerischen Qualitäten eines orientalischen besitzen wollte, der konnte
nichts Anderes thun, als was man auch heute noch in solchem Falle zu
thun pflegt: er kaufte sich einen echten Teppich orientalischer Fabrication
beim Händler. Die enorme Nachfrage, die in Folge dessen gegenwärtig
nach orientalischen Teppichen herrscht, hat einen lebhaften Export der-
selben aus den morgenlänrlischen Staaten zur Folge gehabt. So viel nun
auch die moderne Geschmacksreform zur Entwickelung und zum Auf-
schwunge dieses Exports beigetragen hat: man würde sich täuschen,
wenn man die Vorliebe der Europäer für orientalische Teppiche blos
ffür eine moderne Schwärmerei halten würde. Denn wir vermögen ganz
sicher nachzuweisen, dass die Europäer bereits in viel früheren Jahr-
hunderten der Geschichte die orientalischen Textilproducre im All-
gemeinen, und darunter ganz besonders die Teppiche ebenso zu schätzen
wussten, als wir heutzutage. Orientalische Teppiche finden wir nämlich
dargestellt auf den Bildern altdeutscher und niederländischer Meister aus
dem 15. bis I7. Jahrhundert, mit geometrischen oder sehr stark stilisirten
vegetabilischen Mustern, deren Nachklang wir heute noch an den Er-
Zeugnissen der kleinasiatischen Teppichknlipferei "zu erkennen vermögen.
Im tS. und 16. Jahrhundert gab es aber im Abendlande keine kunst-
gewerbliche Reform im heutigen Sinne, mit bewusster didaktischer
Tendenz, sondern ein naives Kunstschaifen, das sich das Alte und das
Fremde ohne verständige Reflexion blos nach seinen augenblicklichen
Bedürfnissen assimilirte. Der altdeutsche Meister copirte also den orientali-
schen Teppich nicht deshalb, weil er ihm gegenüber den Teppichen
heimischer Erzeugung stilgerechter erschien, sondern weil man zu den
betreffenden, vom Maler zur Darstellung gebrachten Sonderzwecken, zu-
meist Bodenbelägen, auch damals vornehmlich orientalische Teppiche