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göttlichen Gerechtigkeit predigte, aber auch den Trost der göttlichen
Gnade. Denn sie zeigt nicht, wie das später, nicht ohne Fälschung des
traditionellen kirchlichen Gedankens, Signorelli und Michel Angelo thaten,
den Christus, der der halben Welt zlirnend seinen entsetzlichen Blitz zu-
schleudert, sondern mitten in der Darstellung des schrecklichen thront
milde und versöhnend das Bild des Gekreuzigten: ein lebendiger Hin-
weis, dass nur derjenige von Christus und seinem Himmel ausgeschlossen
wird, der sich selber durch Verschmähung der Heilsgnade von ihm aus-
schlieBP).
Reichenau erhob sich am Ausgange des ersten Jahrtausends und
um den Anfang des zweiten zu einer der vornehmsten Stätten des Christen-
thums. Das Kloster war ein Hauptausgangspunkt für die gesammte ro-
manische Cultur des Bodensees und Oberrbeins; Kaiser und Könige
suchten diese Bedeutung zu kräftigen und zu mehren. Zu diesem Zwecke
diente nicht im geringsten Maße der Reliquiencultus, dem eine so große
Bedeutung beigelegt wurde, dass ganze Bauanlagen lediglich auf die Ver-
ehrung der Reliquien zurückgeführt werden müssen. So hat die Ueber-
führung und Vereinigung der kostbaren Reliquien des heiligen Marcus,
dessen Leichnam man angeblich den Venetianern geraubt hatte, einen
wesentlichen Einfluss auf die Bauanlage der alten Münsterkirche von
Mittelzell gehabt. Nachdem Bischof Salomo III. in Constanz den Leib
des heiligen Pelagius von Rom nach der Reichenau überbracht hatte, wurde
hier eigens die Kirche des heiligen Pelagius aufgeführt. Dass man unter
diesen Umständen darnach trachtete, in den Besitz möglichst vieler
Reliquien von möglichst berühmten Märtyrern zu gelangen, liegt auf
der Hand. Es darf deshalb auch nicht Wunder nehmen, wenn sich all-
mälig die Juden, besonders während des 12. und 13. Jahrhunderts in
schwunghafter Weise mit dem Handel von Reliquien beschäftigten. Hand
in Hand mit dem steigenden Reliquiencultus ging dann auch die künst-
lerische Ausbildung der Reliquiare. Verwendete man ehemals Holz zur
Hülle der kostbaren Ueberreste, so war bald kein Material mehr kostbar
genug, keine Form des Reliquiars reich genug, das Andenken an die
Märtyrer zu bewahren. Für ganze Körper blieb als Form die des Sarges
mit größeren oder geringeren Veränderungen bestehen, während man da,
wo man nur einen Körpertheil eines Heiligen oder ein Stück aus dessen
näherer Umgebung besass, die abweichendsten Formen erfand, sehr oft
aber dem Principe folgte, dem Reliquiar die Form zu geben, welche
der Körpertheil hatte, dem die Reliquie entstammte, also die Form eines
') Siehe: F. X. Kraus, Die Wandgemälde von Oberzell auf der Reichenau, Deut-
sch: Rundschau, Band XXXV, 1883, S. 56; - ferner von demselben: Die Wandgemälde
in der St. Georgskirche zu Oberzell auf der Reichenau, aufgenommen von Franz Barer.
Freiburg i. Br., 1884.