DR. H. P. BERLAGE UND SEIN WERK so- VON
J. J. P. OUD-ROTTERDAM se-
IE Baukunst wird sich nach dem Kriege in der Rich-
tung der Sachlichkeit zu entwickeln haben, das
heißt, die ökonomischen Bedingungen werden aus-
schlaggebend sein, und in der neuen Baukunst
muß deswegen mehr das rein Tektonische als das
Dekorative in den Vordergrund treten. Das wird
für die Entwicklung der Baukunst keinVerlust sein.
Mit der Renaissance ging in der Baukunst
die organische Gestaltungsform verloren, das
heißt, die ästhetische Gestaltungsform entstand
nicht mehr in organischem Zusammenhang und
stetiger Wechselwirkung mit der praktischen und konstruktiven Gestaltungs-
form, sondern die ästhetische Gestaltungsform wurde mit der organischen,
konstruktiven nur äußerlich verbunden.
Durch diese grundsätzlich falsche Auffassung hat die Renaissance uns
die Baukunst ganz verdorben, insofern es von dieser Zeit an eine organi-
sche, innerlich lebende Baukunst nicht mehr gegeben hat, sondern nur eine
(nichtsdestoweniger oft großzügige und geniale) Scheinbaukunst, worin aber
das Wesentliche verloren gegangen ist, dem Kleide zuliebe.
Seitdem hat man immer das Kleid der Baukunst verwechselt mit der
Baukunst selber und hat man versucht, das Äußerliche zu ändern oder zu
erneuern, ohne sich von dem Innerlichen Rechenschaft zu geben.
Die äußere Erscheinung eines baukünstlerischen Werkes soll aber nicht
lose vom Ganzen betrachtet werden, sondern nur im Zusammenhang mit
der Gestaltung des ganzen Werkes und als deren Ergebnis. Diese Gestaltung
ist nicht bloß abhängig von dem zufälligen Gemütszustande des Künstlers,
sie soll in erster Linie praktischen Bedürfnissen dienen.
Es muß diesen Bedürfnissen gemäß eine ästhetische Raumgestaltung
geschaffen werden, und weil diese Bedürfnisse in unserer Zeit ganz andere
sind wie zum Beispiel in der Zeit der Gotik oder der Renaissance, muß
unsere traditionelle Baukunst in ihrem Kerne revidiert werden und nicht
nur in ihrer äußerlichen Erscheinung. Auch die Materialien haben ihre For-
derungen und weil unsere Materialien charakteristische Unterschiede zeigen
von den früheren, wird auch deswegen die Gestaltung in der neuen Baukunst
sich wesentlich ändern müssen.
In dieser Hinsicht ist bedeutungsvoll, daß die Baukunst der kommenden
Zeit keine Schmuckkunst sein kann.
Die Aufgabe wird nach dem Kriege sein: im kleinsten Raum die größte
Bequemlichkeit in reinster ästhetischer Gestaltung zu schaffen. In der zukünf-
tigen Baukunst sollen die Proportionen und der Rhythmus vorherrschen
gegenüber dem Schmuck.
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