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geschichtscurs ist keine Kunstlehre; auch dann nicht, wenn er
_mit ästhetischen Deductionen begleitet wird. Einen kunstgeschichtlichen
Uebersichtscurs dürfte wohl mancher in kunsthistorischen Seminaren gebil-
deter Geschichtslehrer abzuhalten im Stande sein, vielleicht auch ein oder
der andere historisch geschulte Zeichenlehrer. Aber um einen kunst-
geschichtlichen Lehrcurs handelt es sich nicht, sondern um eine Kunstlehre.
Was ist aber unter Kunstlehre zu verstehen? i
Es kann gar keinem Zweifel unterworfen sein, dass die moderne
Wissenschaft dahin strebt, die theoretischen Zweige der Kunstwissenschaft
in einem Gesammtwerke zu vereinigen, wie die Zeit des Lionardo der
ldee einer arte universale zustrebte. Würden alle die vielen einzelnen
Tractate Lionardzfs erhalten sein, welche er ausgearbeitet hat, und die
nur bruchstückweise auf uns gekommen und theilweise im Trattato della
pittura (Ed. Manzi) aufgenommen worden sind, so würden wir vielleicht
eine für Malerei vollständig ausreichende Kunstlehre der italienischen Re-
naissance besitzen. Dies ist aber leider nicht der Fall. Dasjenige Buch,
welches noch am meisten eine Kunstlehre genannt werden könnte, ist
Gottfried Semper's Styllehre. Aber dieses, für die Theorie der tek-
tonischen Künste bahnbrechende Werk, ist ein Torso und leidet außerdem
an principiellen Mängeln, die daraus entspringen, dass Gottfr. Semper in
erster Linie Architekt war, und ihn Malerei und Sculptur nicht so inner-
lich interessirten, als die tektonischen Künste.
Aber es würde gewiss dem Bedürfnisse des Zeichenlehrstandes ent-
sprechen, wenn eine fachkundige Hand es unternehmen würde, die Styl-
lehre Semp er's, so wie sie vorliegt, für die genannten Schulbedürfnisse
zu bearbeiten. E. Brückes vPhysiologie der Farbenw und Bruchstücke
aus der vTheorie der bildenden Künsten sowie Be'zold's nFarbenlehreu
sind große Vorarbeiten für eine Theorie der Kunst oder Kunstlehre.
Wenn ich nun überlege, dass vollständig genügende Vorarbeiten über
Chemie, Anatomie und Perspective mit Rücksicht auf die bildende Kunst
noch nicht existiren, die Kunstgeschichte als historische Wissenschaft sich
noch im Entwicklungsstadium behndet, und dass die modernen Philo-
sophen, nimmt man Männer wie Hegel "Vorträge über Aesthetikn und
J. Kant in seiner nKritik der Urtheilskraftu aus, nur wenig positive
Resultate geliefert haben, welche man in eine Kunstlehre für Schulen auf-
nehmen köitnte, so sieht man, wie vorsichtig man sein muss, von der
Kunstlehre als einer fertigen, schon vorhandenen Wissenschaft zu sprechen.
Die Kunstlehre ist noch im embryonischen Stadium; sie ist ein
Postulat der gesammten YVelt, welche sich mit Kunst beschäftigt, dessen
Durchführung der Zukunft anheim gestellt werden muss. Aber eine
Kunstlehre oder Theorie der Kunst, als fertige Wissenschaft, existirt
nicht. Sie wird angestrebt -- aber es liegt uns kein Werk vor, von
dem wir sagen könnten: das ist eine Kunstlehre, wie sie Lehrer und
Lernende in Mittelschulen brauchen, an dieses Buch kann man sich