halten. Auch die fremdländische Literatur besitzt kein Buch ähnlicher
Art. Charles Blanc's vCours de Dessinn ist zu oberflächlich, zu redselig
und zu wenig positiv; Taine ist ein geistreicher Philosoph, der von bil-
dender Kunst mehr versteht, als es bei manchen andern Philosophen der
Fall ist; aber seine Bücher sind Fragmente und kein Ganzes. Seine An-
schauungen wurzeln in den Philosophernen Comte's, welche deutschen
Lesern sehr ferne stehen. Auch die Lehren John Ruskin's werden auf
dem Continente keinen directen Einfluss üben. Die Kunstlehre als Wissen-
schaft existirt also nicht; einige Popularschriftsteller haben für die Be-
dürfnisse des gebildeten Publicums Einiges verölfentlicht, das um der
hübschen Sprache und der fasslichen Darstellung willen gerne gelesen
und von Dilettanten als eine Kunstlehre angesehen wird. Aber alsWissen-
schaft kann man diese populäre Literatur nicht ansehen. Lehrern und Ler-
nenden könnte dieselbe wohl nicht empfohlen werden.
Gibt es also keine Kunstlehre als Fachwissenschaft, und kein Werk,
das als Repräsentant derselben angesehen werden kann, so kann man
auch [nicht den Grundsatz aufstellen, es sei die Einführung der Kunst-
lehre als Lehrgegenstand nöthig, um den Humanismus in Mittelschulen
zu fördern.
Damit wird jeder Fachmann einverstanden sein, dass man in einer
Mittelschule einen Lehrgegenstand nicht einführen kann, der in der Lite-
ratur sich nicht fertig entwickelt hat und noch nicht in concreter Form
vorliegt. Selbst wenn wir dem Ziele einer allgemein giltigen Kunstlehre
oder Theorie der Kunst näher stünden, als es der Fall ist, so würde man
vor Allem davon abrathen müssen, einen Lehrgegenstand aufzunehmen,
der zu ästhetischen Deductionen in einer Mittelschule Veranlassung gäbe.
Wenn von Fall zu Fall Deductionen ästhetischer Art zum Verständniss der
Formen im Zeichenunterricht nöthig sein sollten, so mag es angehen;
aber gewiss soll es nicht in systematischer Form geschehen. Die Jüng-
linge, die sich in den Oberclassen des Gymnasiums oder der Realschule
befinden, mögen ja nicht glauben, sie seien schon reif und vorbereitet zu
philosophischem Denken.
Wenn daher ein so verständiger und kunstwissenschaftlich gebildeter
Lehrer, wie Prof. J. Langl, die Anforderung einer Kunstlehre aufstellt,
so hat das wohl nur den Sinn, es mögen die Männer der Wissenschaft
aufgefordert werden, jene wissenschaftlichen Vorarbeiten zu unter-
nehmen, welche den Weg zu einer vollständigen Kunstlehre und Theorie
der bildenden Künste anbahnen; und es möchten vielleicht Vorkehrungen
getroffen werden, dass über Aufforderung und vielleicht Unterstützung der
Regierung jene Lehrbücher verfasst würden, welche den Bedürfnissen des
Lehrstandes für den Zeichenunterricht entsprechen, jene Lehrbücher, welche
in ihrem Complexe das geben, was unter Kunstlehre oder Theorie der
Kunst verstanden wird. Dahin würden gehören, in erster Linie eine
gründlich abgefasste Anatomie für Künstler, ein Handbuch der Perspective,