419
Für dieses Sündenregister, das in der That nur zu wohl begründet
ist, findet die Commission die Ursache in dem Mangel an nErziehungu,
d. h. in dem Mangel an Urtheil und Verständniss, an geistiger Beherr-
schung der Sache. Die Ausführung sei hewundernswürdig, aber der
Künstler kennt nicht ndie Principien der Aesthetiku; er kennt nicht die
Quellen und die Hilfsmittel, welche ihm das keramische Museum bietet.
Die Unkenntniss der Principien der Aesthetik, das ist ein merk-
würdiges Bekenntniss. Gerade der Gegensatz dieser Principien, die Freiheit
von denselben, die Willkür, das Coquette, das Capriciöse und Bizarre,
verbunden mit geschickter Mache, bildeten seit zwei Jahrhunderten den
eigentlichen Charakter des französischen Geschmackes, der französischen
Kunstindustrie, jenen vgrossen nationalen Stylß, von dem vorhin die Rede
war. Diese Principien sind es, welche von der Reform in der modernen
Kunstindustrie, die sich Frankreich gegenüber stellt, auf den Schild er-
hoben sind. Hier werden sie nun ausdrücklich von der feindlichen Macht
anerkannt.
Der Bericht zählt die hauptsächlichsten Principien auf. Er entnimmt
sie einem Memorial des früheren Präsidenten der Commission Charles
Blanc und stellt sie in folgender Weise auf:
l. In der keramischen Kunst muss die Decoration immer die Form
des decorirten Gegenstandes respectiren.
2. Die Beobachtung der Perspective und ihrer Regeln ist gar nicht
am Platze in der Verzierung der Gefässe. Die Nachahmung von Bildern
muss aus derselben verbannt sein.
3. Die Malerei der Gefiisse muss umsoweniger die der Gemälde, der
Tafelmalerei nachahmen, als sie im Gegensatze zu dieser freie und volle
Farben und sehr wenig gebrochene Töne verlangt.
4. Fern davon, ihre Motive der Natur allein zu entlehnen, ordnet
die keramische Decoration selbst in der Darstellung von Naturgegen-
standen die Nachahmung den Gesetzen der Harmonie unter, dem Ver-
gnügen des Geistes und der Augen.
5. Die schönste farbige Decorationder Gefässe ist nicht diejenige,
welche die Tinten und Töne vervielfacht, sondern diejenige}, welche zwei
complementäre, wechselseitig sich hebende oder zwei contrastirende Farben
spielen lässt, durch einige wenig hervortretende Zwischen- und Nebentönc
temperirt und in Harmonie setzt.
Charles Blanc fügt hinzu: "Das grosse Geheimniss der Coloristen
ist nicht, harmonisch zu sein mit abgeblassten Farben, sondern die Har-
monie mit glänzenden Farben zu behauptennc Dieser Satz, von den Orien-
talen glänzend befolgt, ist eine Verurtheilung der bisherigen französischen
Art und eine Anerkennung der Geschrnacksreform in einem ihrer haupt-
sächlichsten Principien.
Wie von Charles Blanc, so werden im Berichte auch noch von
anderen Mitgliedern der Commission ästhetische Grundsätze aufgestellt,