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wesentlich beitragen zum Vliachsthume der Städte, wo sie sich als zünftiger Kern des
Bürgerstandes bald kaiserlich verbriefter Rechte erfreuen; so in Hannover, Magdeburg,
Strassburg und bereits seit dem dreizehnten Jahrhunderte auch in NVien. Die Reimchronik
Ottokars, die Aufgebotsordnung von 1415 und das noch nicht gehorig gewürdigt: Innungs-
buch von 1430 im hiesigen Stadtarchive werfen die lehrreichsten Schlaglichter auf die
stattliche Zahl von Handwerkern und den Betrieb der überraschend verschiedenartigen
Gewerbe. Es lasst sich ein ziemlich paralleler Gang mit Mainz, Cöln und Nürnberg ver-
folgen von der gesellschaftlichen Hebung des Handwerkers von der untersten Stufe bis
zu jener Höhe des Bürgerstandes, von der im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderte
ein neuer Geist der Bildung sich über ganz Europa verbreiten sollte. Doch kam in Oester-
reich die Blüthe des kleinen und Kunstgewerbes nie in ihrer Reinheit zur Ausbildung.
Seine vorgeschobcne Lage gegen Osten. die beständigen inneren und ausseren Kämpfe
und, man muss wohl sagen, manche verfehlte Eingriffe liessen es verbaltnissmässig gegen
Deutschland zurückbleiben. Die Städte Enns, Steyer, Neustadt, Graz und Innsbruck hielten
sich nur auf dem Niveau der Mittelmässigkeit. Wien selbst macht allerdings eine glänzende
Ausnahme, und Aeneas Silvius Piccolomini, der nachmalige Papst Pius II., konnte 1453 '
mit vollem Rechte schreiben: vBeim Eintreten in ein Wiener Bürgerhaus glaube man,
in den Palast eines Fürsten zu kommenm So sehr wetteiferten Bürger und Adeli e in der
Ausstattung 'ihrcr Kleidung und Wohnung, dass der Bedarf des Luxus durch eimische
Erzeugnisse nicht mehr befriedigt und vielfach (wohl auch unter dem Einflüsse der Mode)
durch die Einfuhr aus Deutschland, den Niederlanden und Italien gedeckt werden musste.
Das verhältnissmassige Zurückbleiben des gewöhnlichen und des veredelten Gewerbes in
Oesterreich hat aber gleichzeitig bewirkt , dass der gewaltige Umschwung, der sich im
sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderte mit dem deutschen Gewerbe vollzog, sich hier
nicht so verderblich geltend machte. Seit der Entdeckung des Seeweges nach Ost- und
West-Indien konnte Deutschland der Concurrenz von Frankreich und England nicht Stand
halten. Der Verfall nahm einen erschrecklich jähen Verlauf, dem bei der überhandneh-
menden Indolenz bezüglich Nord-Deutschlands kaum die äussersten Anstrengungen der
brandenburgischen Fürsten Einhalt gebieten konnten. Deren Ziel war eben, die franzö-
sische Ueberlegenheit durch französische Waffen zu besorgen mittelst einsichtiger Fliege
jenes Systems der inneren Wirthscbaft, welches von den französischen Königen seit Hein-
rich IV. geübt und von dem Minister Colbert zu seiner Hohe gebraeht wurde. Regierungs-
rath Neumann führte seinen Zuhörern die volkswirthschaftlichen Refon-nen jenes Staats-
mannes, ihre Principien und die Art ihrer Durchführung vor Augen. Er that dies alles mit
ziemlicher Ausführlichkeit, weil ohne deren richtiges Verstandniss eine Bcurtheilung jener
heilsamen Massnahmen unmöglich ware, welche Kaiser Leopold I. zur Hebung des öster-
reichischen Gewerbes ergriff.
Die bestandigen Kriege mit Frankreich, den Türken und den ungarischen Malcon-
tenten, dazu die dreiundzwanzigjährige Finanzgebahrung des Hotkamrnerpräsidenten Sin-
zendorf hatten die Staatsmittel vollständig erschöpft. Alle Regalien, Zölle "und Staatsgüter
waren verpßndet, die Schuldenlast konnte gar nicht festgestellt werden; der Wohlstand
der Bevölkerung hatte furchtbar gelitten, allenthalben trat ein empündlicher Mangel an Hand-
werkern hervor und der Auswanderungslust musste mit Gewalt gesteuert werden. Wie
konnte es aber mit dem heimischen Gewerbe besser stehen, da in allen Schichten der
Gesellschaft eine beispiellose Vorliebe für alles Ausländische, besonders alles Französische
platzgegriffen hatte und jährlich ganz kolossale Summen aus dem Lande führte. Da ist
die Antipathie des Kaisers, der für jene Missverhaltnisse offenen Blick hatte, gegen Frank-
reich begreiflich; gleichzeitig strebte er aber, nach den Rathschlagen des Grafen Jörger,
des Freiherrn v. Schröder und des Commercienrathes Becher, die in Frankreich von so
grossartigem Erfolge begleiteten wirthschaftlichen Refonnen Colberts im eigenen Lande
zur Hebung des darniederliegenden Gewerbes und Wohlstandes einzuführen. Die einsei-
tige Autfassung des Prohibitivsystemes, die unglückliche Wahl der Personen, Welchen
die Durchführung der Reformen übergeben ward, persönliche Zwistigkeiten der zahlreich
vom Auslande zur Schulung der heimischen Krafte berufenen Künstler, die schiefen Mass-
regeln Sinzendorfs und immer wieder- der Krieg legten jedoch die besten Plane des Kaisers
und seiner Rathe lahm. So ging unter Anderem das Werkhaus in Wien, welches als
eine Art Kunsrgewerbeschule wirken sollte, bald wieder zu Grunde; nur in Sachen der
Wissenschaft und der grossen Kunst wurde trotz aller Widerwartigkeiten der damals
gelegte Keim nicht ertödtet. Die Bibliothek des Kaisers, unter der Leitung des bekannten
Lambecius, gedieh vortrelflich, die Münz- und Antikensammlung bildete bald einen aus-
giebigen Stock für das kaiserliche Kunstcabinet und die zahlreichen Gemälde, welche der
Kaiser von seinem Oheim Erzherzog Leopold erbte, für das spätere Belvedere. Endlich
wurde dem früheren Hofmaler des Pfalzgrafen bei Rhein, Peter Strudel, die Einrichtung
einer Akademie der bildenden Künste übertragen und 1701 konnte dieselbe erölfnet werden.
Durch ein merkwürdiges Zusammentreffen sollen unter ähnlich misslicher wirthschaftlicher
Lage der Gesellschaft wie vor zweihundert Jahren ijene Schöpfungen Kaiser Leopolds in