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in genanntem Lande aufkommend, schier noch gothischen Stiltypus besitzt.
Kein Bestandtheil des Costüms hat in allen Zeiten so bestimmt und viel-
sagend den Gradmesser für den Geist des gesellschaftlichen Lebens der
Periode abgegeben, als die Spitze. Sie begleitet jede Wandelung des rasch
wechselnden Geschmackes und erscheint einmal in der würdevollen Strenge
der steifen Zacken, wie sie das Kleid a la Giorgione oder Tizian erheischt,
einmal im wulstigen Durcheinander der Leopoldinischen Mode, in der
Zierlichkeit a la Watteau, sowie in der Nüchternheit und alfectirten Schlicht-
heit der Revolutionsepoche und des Empires, durch tausend Nuancen
hindurchgehend, immer sozusagen der Accent auf dem Ensemble der Tracht,
das vorgesetzte Zeichen, welches die Tonart des Ganzen erkennen lässt.
Insofern die Spitze fast in allen Gegenden und Zeiten gleichzeitig sich sowohl
der Klöppeltechnik, als jener der künstlichen Nadelarbeit bedient, gewinnt
sie zwiefach verschiedenen Typus, der überall hervortretend, überall sie
bald leichter und freier, bald gemessener und ernster erscheinen lässt.
Der Klöppelpolster erzeugt ein Fädengewirr, ein ordnungsvolles Chaos,
aber vorherrschend in geschwungener flüssiger Linienführung, während
die Haupttypen der Nadelarbeit, dieser mühevollen, häufig schier pein-
lichen Procedur, gebunden, constructiv in den Formen aufzutreten lieben.
Man könnte daher beinahe den Vergleich zu wagen versucht sein, dass
im Allgemeinen der Stil der Klöppelei der malerische zu nennen wäre,
während jener andere durch scharfe Plasticität sich auszeichnetuDas Durch-
brochene und Gitterartige, das freie scharfe Abstechen der Spitze von ihrer
Unterlage bestimmt hier ihr eigentliches Wesen, wogegen das Product
des Klöppelpolsters gerne die ununterbrochene Fläche an die Stelle der
a jour-Arbeit treten lässt und auf derselben sozusagen zeichnet, statt con-
structiv zusammenzufügen.
Obwohl zahlreiche Beispiele den Beweis liefern, dass in jedem Lande
eine grosse Menge ganz verschiedener Techniken Anwendung fanden, so
ist dennoch nicht zu leugnen, dass überall für einen Zweig der Fabrica-
tion eine besondere Vorliebe bestand und weiter, dass die Wahl derselben
stets mit der sonstigen Richtung des betreffenden Volkes in Dingen des
Kunstgeschmackes zusammenhing. Der Naturalismus der Niederländer
z. B., ihre Abneigung wider die Darstellung ganz bestimmt ausgespro-
chener haarscharf abgehobener Formen in der Malerei spricht sich in
dem dichten Wirrnisse ihrer Klöppelspitze aus, welche, übereinstimmend
damit, daher auch frühzeitig die geometrisch stilisirte Zeichnung der [ta-
liener verlässt und Gebilde der Natur, vor Allem Blumen als Muster
wählte. Der Italiener bevorzugte stets die strengere stilisirte Zeichnung,
welche einzig und allein zu den klaren Formen seiner Renaissancearchi-
tectur, den hellen, prononcirten Tönen seiner Landschaft und den nicht
minder bestimmten Gestaltungen der letzteren harinonirte. Um den Be-
schauer in der Ausstellung zu derartigen Betrachtungen und Erwägungen
über die costümgeschichtliche Stellung der Spitzen im Rahmen des ge-
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