ln neuester Zeit vollzieht sich nun aber hierin in Preussen ein grosser
Umschwung; und zwar scheint man dort nicht sowohl von culturpolitischer
als von volkswirthschaftlicher Seite her zu der Einsicht gelangt,
welcher gewaltige Factor im nationalen Leben die Kunst sein könnte und
sollte. Wenn man sich dessen in Preussen seit etwa sechs Jahren klarer
und klarer bewusst ward, so hat die Beobachtung der Zustände bei den
überrheinischen Feinden von 1870 nicht wenig zu solcher Erkenntniss
beigetragen.
Das deutsche Invasionsheer sah in Frankreich mit Staunen den all-
gemeinen Wohlstand, die weitverbreiteten Geschmacksbedürfnisse, die
feiner entwickelten Culturformen; und mit nochgrösserem Staunen sah
ganz Europa auf Frankreich, als dieses nach dem verheerenden Kriege
sich materiell so rasch erholte, dass es schon nach wenig Jahren wieder
als der ökonomisch gesundeste Großstaat des Continents gelten konnte.
So wurden denn bei den Siegern, wie bei aller Welt, die ohnedies hohen
Vorstellungen von Frankreichs wirthschaftlicher Kraft noch weit übertroffen.
Dies gab in Preussen den Denkenden zu denken. Sie verglichen die
Productionsverhältnisse der Heimat mit denen des kürzlich im Felde über-
wundenen Nachbars. Kein Zweifel, Frankreich stellte sich als sehr begün-
stigt dar durch einige geographische und klimatische Bedingungen. Seine
commerciell so vortheilhafte Lage zwischen drei Meeren, sein Weinbau,
seine Seidencultur sind Factoren des Wohlstandes, die Preussen stets ent-
behren muss. Aber die Gunst dieser natürlichen Bedingungen erklärt
doch nicht völlig die industrielle Macht Frankreichs, seine grosse Stellung
auf dem Weltmarkte.
Den Kern seiner ausserordentlichen Stärke rnusste man daher wohl
in einer eigenartigen Arbeitskraft seiner Bevölkerung suchen. Worin
mochte nun solche Eigenart bestehen? ln der Technik, im Maschinenwesen?
Diese Zweige hatten seit mehreren Jahrzehnten in Preussen und Deutsch-
land solchen Aufschwung genommen, dass in dieser Hinsicht ein tiefer und
principieller Unterschied zwischen den Productionen Frankreichs und desdeut-
schen Zollvereines kaum erkennbar schien. Wohl aber konnte in Betreff einer
anderen, wichtigen Seite der Production ein sehr wesentlicher Unterschied
nicht übersehen werden: die Kunst ist in Frankreich nicht "Caviar für's
Volke; sie bildet dort eine nationale Angelegenheit, und zwar eine der
populärsten nationalen Angelegenheiten. Niemand hasst sie, und darum
braucht sich auch kein König, kein Kaiser und kein Präsident vor der
Oeffentlichkeit zu entschuldigen, wenn für künstlerische Zwecke von
Staatswegen etwas geschieht. Denn die Volksthümlichkeit der Kunst lässt
keinen Vorwurf aufkommen und die traditionelle Pflicht des Staates zu
öffentlicher Kunstpflege ist lange genug anerkannt, um Jedermann für
selbstverständlich zu gelten. Bis zum letzten Handwerker herab lebt in
allen Gesellschaftskreisen eine mehr oder minder deutliche Vorstellung
davon, wie viel der Ruhm und der Reichthum Frankreichs solcher Kunst-