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Wir wissen, wer die Lehrer dieser grossen Meister waren und ebenso
gut, was sie von denselben lernten, indem wir bei Betrachtung ihrer
Erstlingsarbeiten diese kaum von denen ihrer Meister unterscheiden können.
Bedenkt man aber den bedeutenden Umschwung in der Welt gerade zu
jener Zeit, sowohl in der Wissenschaft als auch in humanistischer Be-
ziehung, so ist es nicht so auffallend, dass solche Künstler mit ihrem an-
gebornen Genie - als es mit einem Male erlaubt war, die herrlichen
antiken Ueberreste, womit, trotz aller Barbarei des Christenthums, Rom
noch immer überfüllt war, zu bewundern und zu studiren - sehr bald
ihre Lehrer übertreffen und wie mit einem Schlage die Kunst auf eine
fast nicht zu überschreitende Höhe bringen konnten.
Von Raphael wissen wir nun, dass er eine Menge Schüler hinter-
lassen hat; wir wissen auch, dass es keinem von ihnen gelungen ist, ihren
Meister zu erreichen. Dass viele Nachahmer Michel Angela's die Kunst,
statt sie vorwärts zu bringen, nur rückwärts gebracht haben, ist ebenso
bekannt; aber wem wird es einfallen, diese Meister hiefür verantwortlich
zu machen? Es scheint dies im Gegentheil zu beweisen, dass, obgleich in
der Kunst eine Menge gelernt werden muss und auch gelernt werden
kann, das Wesentliche in der Kunst, nämlich das Genie, nur die Natur
gibt. Aber alle Genialität hilft nichts, wenn damit nicht eiserner Fleiss in
der Erreichung technischer Vorkenntnisse zum Weitergeben verbunden ist.
Es ist bekannt. wie eifrig die Meister des Cinquecento die Antikel
studirten, und von Michel Angelo wissen wir, dass er, fast auf der Höhe
seiner künstlerischen Bedeutung stehend, es nicht verschmähte, 12 Jahre
lang anatomische Studien am Secirtisch zu machen. Wir kennen die Be-
_mlihungen der Maler und Architekten jener Zeit, hinter die Geheimnisse
der Perspective zu gelangen.
Um unseren angehenden Künstlern die Erwerbung solcher Vorkennt-
nisse zu erleichtern, vor Allem um sie auf den richtigen Weg zu führen
und sie mit denjenigen Regeln der Kunst bekannt zu machen, die durch
ihre Dauer von Jahrtausenden erprobt und geheiligt worden sind, muss
es auch in einem wohleingerichteten Staate eine Anstalt geben, wo solche
gründliche Vorkenntnisse in der Kunst erworben werden können, und das
ist der eigentliche Zweck der Kunstakademien, statt, wie Viele glauben,
aus mittelmässigen Talenten Genie's zu bilden.
So wenig eigene Gebäude für Kunstakademien in der Welt noch
errichtet wurden, so hat doch nirgends eine Akademie ein kümmerlicheres
Unterkommen gefunden, als diejenige in Wien, die seit einem Jahrhundert
in den alten Klosterräumen von St. Anna ihre Existenz fristet. Da aber
die Frequenz immer zunahm, mussten längst schon einzelne Schulen aus-
wandern und in Privat-Loealitäten oder in provisorisch hergerichteten
Räumen ein anderes Obdach suchen. Diese zwingenden Verhältnisse riefen
nach einem Neubau, der im Jahre 1872 von Sr. Majestät genehmigt und