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pejanischen Wände; so entstehen noch heute die Arbeiten orientalischer
Geschicklichkeit, die Teppichenmuster primitiver Völker, die Arbeiten
zahlreicher, noch aus alter Zeit erhaltener Hausindustrien.
Diese Improvisationen setzen voraus, dass nicht nur ein gewisser
Formenschatz, sondern auch gewisse Regeln über dessen Verwerthung
zu immer neuen Mustern traditionell lebendig erhalten sind, sowie die
Muttersprache, in der sich auch Jeder ohne viel Nachdenken auszudrücken
versteht. Der Formenschatz entspricht hiebei den Worten der Sprache
und die Regeln zu deren Verwerthung der Grammatik.
Auf den Höhen der Kunstentwickelung reicht das improvisiren endlich
nicht mehr aus.
Bekanntlich wurden alle Schauspiele seinerzeit von den Mimen blos
nach gegebenen Programmen improvisirt und weist die Geschichte des
Dramas eine Zeit auf, in welcher diese Methode mit dem Auswendig-
lernen geschriebener Texte in Fehde lag.
Selbst ansehnliche Kirchenbauten und Burgenbauten des frühen
Mittelalters sind sicher in ähnlicher Weise improvisirt worden und kleinere
Arbeiten, Schnitzereien, Schränke und Anderes bis spät in die Renaissance
hinein, ja selbst bis auf den heutigen Tag.
Heute fällt es aber Niemandem mehr ein, z. B. ein Theater ohne
Plan bauen zu wollen oder eine Symphonie von einem großen Orchester
nach gegebenem Motiv improvisiren zu lassen.
Während das Improvisiren in primitiver Zeit in allen Kunst-arten
herrschte, verschwindet es bei steigender Entwickelung aus einem Gebiete
nach dem andern und an seine Stelle tritt das zielbewusste Durchdenken
jeder Aufgabe. An die Stelle des Instinktes tritt das Bewusstsein und die
größten Meister dieser höheren Entwickelungsstufe waren stets zugleich
die größten Theoretiker.
Von diesen großen Meistern nun sollten wir nicht blos die äußere
Form, sondern auch das innere Wesen, wie sie es selbst angefangen
haben, Solches hervorzubringen, lernen. Nicht blos wie er räuspert, wie
er spuckt, sollen wir dem Meister abgucken.
Ein Zeuge sei da gewählt für viele, Michelangelo.
Michelangelo verbrannte bekanntlich eine Unzahl seiner Studien,
damit die Nachwelt nicht sehen sollte, wie er sich seine Meisterschaft im
Ringen mühevoller angestrengter Arbeit erkämpft. Es ist dies ein Stück
Künstlereitelkeit, die auch den Größten oft nicht freigibt, und diese in
ununterbrochener Tradition fortwuchernde Künstlereirelkeit ist es, welche
endlich zu der modernen Fabel vom alleinseligmachenden Genie führte.
Vom Nektar dieser Fabel sind unsere Jünger an den Hochschulen der
Kunst gar bald berauscht und zwar um so leichter, je Weniger ihnen das
wahre Wesen des künstlerischen Schaffens entschleiert wird, das allerdings
viel, sehr viel Talent, aber auch viel, sehr viel Fleiß und hartes Studium
fordert.