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Wohnhäusern und Palästen wurde erbaut und zum Theil mit ungewöhn-
lichem Luxus ausgestattet. Dabei waren die Berliner Architekten gegen-
über ihren Wiener Collegen insoferne im Vortheil, als der Materialbau
bei ihnen viel häufiger in Anwendung kam. Jedermann aber weiß, wie
sehr ein schönes Material, und namentlich Stein, dem Künstler erwünscht
ist, wie dabei der Sinn für feine Profilirung, ausdrucksvolle Klarheit und
sorgfältige Durchbildung des Details zunimmt und sich natutnothwendig
auf die innere Ausstattung, dann auf die Möbel und schließlich auf die
gesammte Kunstindustrie überträgt; Dagegen war es bisher ein großer
Nachtheil, dass es der monumentalen Architektur an Aufträgen fehlte. Denn
wahrhaft große Aufgaben der Architektur erziehen ein Künstlergeschlecht
von strenger, ernster Sinnesart, Maß und Haltung treten an Stelle kleinlicher
EfTecte, edle reine Schönheit kann sich frei entfalten, wirkt zurück auf
die gesammte Kunstübung und läutert den Geschmack des Publicums.
Ein verderbliches System, das leider auch bei uns nicht selten zur Gel-
tung kommt, benachtheiligte überdies noch die Kunstindustrie in jenen
Fällen, in welchen Bauten aus öffentlichen Mitteln errichtet wurden.
Statt nämlich bei solchen Gelegenheiten, vorausgesetzt, dass überhaupt
künstlerische Gesichtspunkte in Frage kamen, die besten und tüchtigsten
Kunstindustriellen herbeizuziehen, übergab man die Arbeiten an Jene,
welche in Bezug auf den Preis die größten Concessionen machten, so dass
gerade bei Aufträgen des Staates oder der Commune die Kunstindustrie
am wenigsten Gelegenheit hatte, ihr volles Können zu bethätigen. Die-
selbe war vielmehr bis jetzt hauptsächlich auf die Bedürfnisse und Con-
cessionen der bürgerlichen Kreise beschränkt. Es lag daher die Ver-
suchung nahe, mehr eitlen Prunk als echte Pracht zu pflegen und durch
Ueberladung mit kleinlichem Detail dem noch ungeläuterten Geschmack
des großen Publicums zu huldigen. Dieser Versuchung unterlag die
Berliner Kunstindustrie bis gegen Ende der Siebziger Jahre in der That,
und manche Zweige derselben haben sich bis heute davon nicht befreien
können. Aber im Allgemeinen kommt namentlich seit der Ausstellung
irn Jahre 1879 eine bessere Richtung immer mehr zur Geltung. Auch
hier wird vorzugsweise die deutsche Renaissance gepflegt, aber ihr Cha-
rakter ist ein anderer, indem ein architektonischer Geist in allen Ent-
würfen obwaltet. Die Kunstindustriellen Berlins haben sich München in
vieler Beziehung zum Muster genommen, und sie thaten wohl daran,
denn in Bezug auf harmonische Farbenwirkung und künstlerisches Arran-
gement konnten sie von ihren süddeutschen Brüdern nur lernen; aber
sie haben die Extreme der Münchener Richtung glücklich vermieden;
wir "finden weder Schränke noch Himmelbetten mit Füllungen aus Butzen-
scheiben, noch gemalte Fenster mit Wappen, die zu dem Besitzer in gar
keinem Verhältniss stehen, es fehlt alles Das, was sich vielleicht am
besten mit dem Worte "Altdeutschthlimeleil bezeichnen lässt. Die Ber-
liner Architekten und Kunstindustriellen scheuen sich nicht, im Ornament