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Auch hier muss sich der Entwerfende zuerst die Frage nach dem Zweck
des Gegenstandes beantworten, dann die speciellen Eigenschaften des
Materiales in Rechnung ziehen, und endlich nach Maßgabe dieser beiden
gegebenen Factoren an die künstlerische Durchbildung schreiten. Handelt
es sich also darum, von außenher auf die Hebung des Geschmackes im
Kunstgewerbe einzuwirken, so wird Niemand dazu berufener sein, als der
Architekt. Und so hat man denn auch an kunstgewerblichen Schulen
verschiedenster Art den Architekten maßgebenden Einfluss eingeräumt,
und sie als diejenigen unter den Künstlern bezeichnet, denen es zukommt,
den Unterricht im stylgemäßen Componiren zu ertheilen. Sie sollen die
großen tektonischen Gesetze handhaben, welche das Kunstgewerbe mit
der Architektur gemein hat, und die sich im Aufbau, in der Bildung der
Form und ihrer Gliederung, sodann in den schmückenden Zuthaten, in
der Decoration, geltend machen. ln letzterer Beziehung erst werden Maler
und Bildhauer an Stelle des Architekten zu treten Gelegenheit finden.
Es ist damit natürlich nur ein Princip in seinen allgemeinen Umrissen
gegeben und keineswegs ausgeschlossen, dass in speziellen Fällen der
Maler oder Bildhauer ein Werk der Kunstindustrie selbständig durch-
führen oder componiren kann, wie es ja zu allen Zeiten auch der Fall war.
Hatten nach solchem Principe die Architekten zunächst im kunst-
gewerblichen Unterrichte den weitgehendsten Einfluss, so gestaltete sich
derselbe nicht minder einschneidend im praktischen Leben. Zunächst ver-
stand sich derselbe bei Monurnentalbauten ganz von selbst. Im Interesse
eines einheitlichen Ganzen war ihr Eingreifen in das Kunstgewerbe ganz
unvermeidlich. Aber niemals ist es einem modernen Architekten gelun-
gen, Mustergiltiges für die Kunstindustrie zu leisten, bevor er sich nicht
in die Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Gewerbe eingelebt, an den
Werken der Alten die Bildungsgesetze studirt, und das zu verarbeitende
Material, dessen Fähigkeiten und Vorzüge genau kennen gelernt hatte.
Nach vielen schlimmen Erfahrungen sind selbst Architekten ersten
Ranges zu der Erkenntniss gekommen, dass sie darauf verzichten müssen,
für das Kunstgewerbe zu componiren, wenn sie nicht in der Lage sind,
die angeführten Bedingungen zu erfüllen. Je eingehender sie sich dagegen
mit den Bedürfnissen des Kunstgewerbes vertraut machten, je häufiger
sie in kunstindustriellen Sammlungen die mustergiltigen Vorbilder der
Alten zu Rathe zogen, desto williger überließ sich das Kunstgewerbe
ihrer Führung, desto häufiger machte auch das bürgerliche Wohnhaus
von ihren Kenntnissen Gebrauch. So gewannen die Architekten auffallend
schnell eine Stellung im kunstgewerblichen Leben, wie sie noch vor
Kurzem Niemand geahnt hatte. Vereint mit Bildhauern und Malern,
unterstützt von den Bestrebungen an kunstgewerblichen Schulen und von
einer Reihe im reformatorischen Sinne thätiger Literaten, befreiten sie
die Kunstindustrie von den anarchischen Zuständen der vorangegangenen
Epoche.