6
alle die auseinanderstrebenden Stämme fest zusammengehalten
habe, findet Bundesgenossen in einem Domherrn vom Rhein, in
einem Reichshofrath, in einem Reichsritter, vor Allem aber in dem
Senator einer freien Stadt, auch dieser grossdeutsch, kaiserlich
und conservativ, aber dabei durchaus praktisch-verständig, beson
ders davor warnend, dass man nicht etwa alles Alte, längst Erstor
bene wieder gewaltsam herzustellen versuche: „Doch soll vor
Einem Deutschland sich besonders hüten“, sagt er, „dass es nicht
verwechselt die gute alte Zeit mit der Ausartung, die späterhin
gefolgt; dass es mit den alten Formen nicht den alten Schlen
drian der kläglichsten Erstorbenheit ergreife; dass es nicht das
erwachte Leben wieder versteinern und verholzen lasse in der
vorigen liederlichen Erbärmlichkeit. . . . Durch den neuen grünen
Saft, der im Volke steigt, soll man die Formen wieder beleben,
dass sie erneut dastehen. . . Darum wird das rechte Alter ewig
auch die rechte Jugend sein, während das Ueberlebte mit dem
Kindischen zusammenfällt.“ Und der Fürst, aus voller Seele dem
beistimmend, schliesst versöhnend ab: „Dem ist also, und so
wird es geschehen, weil Deutschland in seiner Geschichte ein
neues Weltjahr begonnen hat und Niemand dem einbrechenden
Frühling wehren mag, dass er komme und das schlafende Leben
in der Erde wecke. So ist es geordnet durch die Vorsicht des
Geistes, der die Welt regiert, dass die teutschen Völkerschaften,
sofern sie einander entfremdet sein mögen, nicht lassen können
von einander.“
Görres hat diese Dyperi nicht nach dem Leben zeichnen
können, er war nicht in Wien und kannte von denen, die da am
Werke waren, die meisten nur vom Hörensagen. Wenn er drum
in dem Fürsten, wie es wahrscheinlich ist, den Fürsten Metter
nich darstellen wollte, so hat seine Zeichnung wohl nicht einen
einzigen Zug mit dem Urbild gemein. Aber es lassen sich schon
Personen finden, die diesen Dypen entsprechen. Dieser Fürst, es
ist der Reichsfreiherr v. Stein, nur dass er freilich nicht so mild
versöhnlich, sondern im Gegentheile leidenschaftlich zufahrend, ja
mitunter auch rauh und hart war. Preussische Generale von der
Gesinnung, wie sie Görres dem seinigen zuschreibt, gab es in
Wien nicht wenige — wir denken etwa an Leopold Heinrich v.
Boyen oder an Karl Wilhelm Georg v. Grolmann, der im März
1815 von Wien aus als General-Quartiermeister zur Armee Blücher’s
7
ging. Den preussischen Staatsrath können wir unter dem Stäge-
rnann, Jordan, Hoffmann Anden - nicht in Wilhelm v. Humboldt,
denn der war nicht so particularistisch gesinnt. Der bayrische
Standpunkt hatte in Wien zwei energische, rücksichtslose Ver
treter in dem Grafen Montgelas und im Fürsten Wrede; die hatten
aber beide schärfere Züge als der Graf in Görres’ Gespräch. Der
„Reichshofrath“ spricht etwa die Gesinnung des österreichischen
Bevollmächtigten Freiherrn v. Wessenberg aus, in dem „Reichs
ritter“ erkennen wir den Ritter v. Zobel, in dem „Domherrn“
den Canonicus Helfferich von Speier, in dem „Senator“ entweder
den Syndicus von Hamburg, Gries, oder den von Bremen, Smidt,
von dem uns Varnhagen erzählt: „Seine Ansichten und Aeusse-
rungen blieben nicht gleichgiltig und fanden bisweilen Wiederhall
in den höchsten Regionen.“
Aber alle diese Personen tragen bei Görres zu wenig individu
elles Gepräge, sie sind Alle aus demselben Farbtopf gemalt, Alle hell
auf hellem Grunde, sie sprechen Alle wie Görres, sie sind Alle vor
nehm und edel. Ueberdies sind auch manche Tendenzen, und ge
rade die, welche am kräftigsten wirkten, gar nicht vertreten. So
die der Staatsweisheit des achtzehnten Jahrhunderts. Der „Reichs
hofrath“ charakterisirt sie einmal, er wendet sich gegen das
„rastlose Fördern und Befördern“, das immer und unausbleiblich
zum Despotismus führe: „Der Gang ist breit und bequem, erst
Alleinklugheit, dann Schulmeistern, Vorschreiben bis ins Kleinste,
Gesetzgeben ohne Aufhören, Verbieten, Einsperren, Verdammen,
zuletzt Erdrosseln. Was ist es nicht schon eine Plage gewesen
in Deutschland mit den Regierungen, die sich eingebildet, sie wären
da, ihr Volk im Bauer abzurichten, gelehrt zu erziehen, ihm zu
sagen, was es thun und lassen, schreiben, lesen, wie und wann
es arbeiten, essen, trinken und tanzen solle! Die Noth ist so hoch
gestiegen, dass die Verständigsten beinahe des Glaubens worden,
die schlaffste Regierung sei die beste.“ Zu diesen „Verständigsten“
hatte einst Wilhelm v. Humboldt gehört, damals, als er den „Ver
such, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“,
geschrieben hatte. Aber das war zwanzig Jahre her, der „Versuch“
lag ungedruckt in seinem Pult, und er dachte kaum mehr so.
Und die eigentlich Massgebenden, die gekrönten Häupter, die lei
tenden Minister, die dachten fast Alle so, wie der „Reichshof
rath“ des Görres und wie Görres selber gerne gewollt hätte, dass sie