6. Welche Stellung hat gegenwärtig die Kunstgeschichte als Lehr-
fach an Universitäten und polytechnischen Instituten?
Der Vorsitzende ordnet den Gang der Verhandlungen so, dass erst
"die Mittheilungen des Prof. Springer verlesen, dann Punkt für Punkt
des Programmes discutirt werden soll. Auch liegt zu dieser Frage der
Hauptinhalt des bereits mitgetheilten Schnaasdschen Briefes vor.
Unmasisgebliche Vota des Prof. Springer in Leipzig.
Zu Fragepunkt lll. ich würde mich ad i: vSoll im Unterrichte an Mittel-
schulen auf Kunstgeschichte Rücksicht genommen werdenIM beiahend aussprechen,
jedoch gegen d), gegen den selbstständigen Unterricht stimmen und zwar aus
allgemeinen pädagogischen Gründen. Die Summe der Lehrgegenstände in den
Mittelschulen ist bereits eine so grosse geworden, streift schon so nahe an
Ueberbürdung der Lehrer und Schüler an, dass eine Vermehrung derselben
auf allgemeinen Widerspruch stossen würde. Ueberdies handelt es sich auf
Mittelschulen, Gymnasien wie Realschulen, nicht um einen vollständigen Ueber-
blick der Kunstgeschichte. Dieser lässt sich noch weniger erreichen, als eine
vollständige Uebersicht der Literaturgeschichte, da er eine gewisse Schulung
des Auges, einen geweckten und einigermassen gereiften Formensinn voraus-
setzt. Es würde genügen, den Schülern gewisse Grundbegriffe, die sich auf
die bildenden Künste und deren Entwickelung beziehen, beizubringen. Das
kann aber bequem und erfolgreich geschehen, wenn der kunsthistorische Unter-
richt an einen andern bereits ein eführten Lehrgegenstand angeschlossen wird.
Ich muss auch gegen b) (in rbindung mit dem Zeichenunterricht) stimmen.
DerZeichenunterricht ist wenigstens auf den Gymnasien nicht obligatorisch und wird
leider meistens nur als eine Erholung von der strengen Schuldisciplin getrieben. Ich
leugne nicht, dass da und dort der Zeichenunterricht für die Hebung des Kunst-
sinnes Erspriessliches leistet. Als Beispiel führe ich an, dass unter meinen
Zuhörern diejenigen, die vom Mainzer Gymnasium kamen und daselbst den
Zeichenunterricht genossen hatten, eine überraschend gute Kunstbildung be-
sassen. Das wird aber doch nur eine Ausnahme bleiben, solange nicht das
Verhältniss des Zeichenlehrers-zum Lehrercollegium anders geregelt, seine Stel-
lung überhaupt reforrnirt, auch in materieller Beziehung gebessert wird. Ich
stimme daher für c), für Verbindung des kunsthistorischen Unterrichtes mit
der Geschichte. Hier ist der natürlichste Anlass und die reichste Gelegenheit,
die Schüler über die Elemente der Kunstgeschichte zu unterrichten. Zur Be-
gründung dieser Meinung erlaube ich mir kurz, den in Mittelschulen zulässigen
kunsthistorischen Lehrstoff anzudeuten. An denselben könnte gelehrt werden:
ein kurzer Abriss der altorientalischen Kunst. Auf Universitäten ist für die-
selbe kein rechter Raum, da nur einige wenige Thatsaehen mitgetheilt, weder
eine Entwickelungsgeschichte derselben gegeben, noch die Methode der For-
schung an denselben erörtert werden kann. Wegen dieses fertigen, rein that-
sächlichen Charakters unserer Kunde von der altorientalischen Kunst eignet sie
sich gut dazu, an Mittelschulen erzählt zu werden, ähnlich wie mytholo-
gische Sagen hier erzählt werden, ohne dass ihr religionsgeschichtlicher Kern
kritisch dargelegt wird.
_Als kunsthistorischer Lehrstoff an Mittelschulen kann weiter benützt
werden: die Erklärung des dorischen und ionischen Tempels, der mittelalter-
lichen Bauweisen, diese an einzelnen concreten Beispielen (z. B. S. Clemente
[trotz seines späten Baues] für die altchristliche Basilika, die Sophienkirche,
für den byzantinischen, die mittelrheinischen Dome für den romanischen, ein