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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe IX (1874 / 106)

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wAn Michelangelds Gestalten", sagt Henke, "hat die Arbeit des 
Lebens die zarte Aeusserung der Beseelung von der Oberflächelzurück- 
gedrängt. Sie stellen uns nicht den täuschend natürlichen und jugendlich 
blühenden Glanz der Erscheinung gesunder, frischer Leiber vor Augen, 
wie die Bildwerke der Griechen, wo noch nicht durch das Anarbeiten der 
unterliegenden Theile die weiche Decke wie abgetragen, sondern selbst 
noch wie von einem Hauch organisch beseelter Form durchdrungen ist." 
Ein Hauptmerkmal des verschiedenen Charakters der Figuren der Alten 
und Michelangelds findet sich ferner in der Art der Stellungen, die 
beide darstellen. wEs sind die einfacheren, natiirlicheren, elastisch gebo- 
genen Wendungen und Stellungen des ganzen Körpers bei den Griechen, 
die gezwungenen, mannigfaltigeren, contrastirenden Verschränkungen der 
einzelnen Glieder bei Michelangelo." "Eine Auflösung des harmonischen 
Zusammenhangs aller Gliedern, sagt Henk e, nist es, was uns die Stel- 
lungen der Figuren des Michelangelo zur Anschauung bringenm 
Wenn Henke geneigt ist, die Art, wie Michelangelo seine Men- 
schen darstellt, aus der mit Hilfe von Studien an der Leiche gewonnenen 
Bekanntschaft mit dem Gefüge des menschlichen Körpers zu erklären, so 
möchte ich dagegen bemerken, dass immer noch zu erörtern bliebe, ob 
denn diese Art der Darstellung in der That nur eine Folge der anatomi- 
schen Studien sein könne, ob es nicht dem Künstler ganz eigenthümliche 
uns weiter nicht bekannte veranlassende Momente waren, die ihn bestimm- 
ten, den menschlichen Körper gerade so zu bilden, 0b er nicht auch ohne 
jene ausgedehnten anatomischen Studien es vorgezogen hätte, scharf mar- 
kirte ausgesprochene Stellungen und eine eben solche Oberfläche seinen 
Menschen zu geben. Diese Art der Darstellung lag vielleicht in seinem 
ganzen Charakter, und seine Liebe zur Anatomie, mit der er sich durch 
zwölf Jahre beschäftigte, entsprang vielleicht aus dem Bestreben, diesen 
bestimmten Charakter seinen Figuren mit grösster Naturwahrheit geben 
zu können. 
Wenn auch die Griechen, die keine Anatomie des menschlichen Kör- 
pers betrieben, ihren Figuren eine mit dem feinsten Verständnisselmodel- 
lirte Körperoberfläche zu geben wussten, so möchte ich doch bezweifeln, 
ob auch jetzt noch ein Studium nach dem lebenden Modell allein genügen 
könne, um es in der Darstellung der Oberfläche zu einer gleichen oder 
auch nur annähernden Vollkommenheit zu bringen. Es ist wiederholt dar- 
auf aufmerksam gemacht worden, dass es das ganze Volk der Griechen 
war, das sich für die vollkommenste Ausbildung der Gestalt interessirte, 
"dass es mit den Formen des ganzen menschlichen Körpers vertraut war 
und sie kannte, wie wir ungefähr die Gesichtern. Der Grieche sah die 
frischen Körper der Jünglinge in der Ringschule frei sich bewegen. Klima 
und Sitten des Landes gaben ihm den ganzen Tag Gelegenheit, halb 
nackte Körper beobachten zu können. Henke spricht die Vermuthung 
aus (und ich bin vollkommen überzeugt davon), ob nicht die Körper jenes
	        
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