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Imitationen von Venetianischen Spitzen sich beschäftigt hatte. Colbert ging
bei seinem Interesse, die ausländischen theuern Spitzen auf französischem
Boden angefertigt zu sehen, noch weiter, indem er sein Schloss Lonray
(Orne) bei Alencon der obengedachten Künstlerin als Atelier zur Herstel-
lung von imitirten Spitzen einräumte. Mm. Gilbert begann wirklich im
Jahre 1665 im Schloss Lonray, umgeben von 30 geübten Spitzenmache-
rinnen, die man mit grossen Kosten aus Italien hatte kommen lassen, den
points de Venise auf französischem Boden Concurrenz zu machen. Der
gewagte Versuch gelang vollständig und nach Ablauf einiger Zeit hatte
Colhert die Genugthuung, dass er seinem Souverain die ersten grossartigen
Leistungen der Mm. Gilbert im Schlosse zu Versailles in einer Ausstellung
vorlegen konnte. Ludwig XIV. war mit diesen unerwarteten Erfolgen, die
verführerischen ausländischen Spitzen im eigenen Lande anzufertigen,
äusserst zufrieden und befahl, dass man diese gelungenen Imitationen von
Venetianischen, Genueser und Spanischen dentelles fernerhin points de
Fmnce nennen sollte und dass fortan am Hofe nur allein diese neuen
Spitzen der Mm. Gilbert getragen werden durften '). Im Jahre 1666 erschien
daraufhin eine königliche Ordonnanz, welche gesetzlich bestimmt, dass in
den Städten Quesnoy, Arras, Reims, Sedan, Chäteau-Thierry, Loudun,
Alencon, Aurillac und in anderen des Königreiches Spitzen-Manufacturen
für Herstellung von dentelles, sowohl angefertigt mit der Nadel, als auf
dem Kissen geklöppelt, eingerichtet werden sollten, die sich zur Aufgabe
zu stellen hätten, Spitzen in der Weise von Venedig, Genua, Ragusa und
den benachbarten Ländern herzustellen, und dass man diese imitirten
Spitzen in Zukunft points de France zu nennen hätte.
Hiermit wäre in kurzen Ztigen der Ursprung der Spitzenfabrication
auf französischem Boden angedeutet. Dem klugen Colbert war es also
vollständig gelungen, für die stets wechselnde Mode den Schwerpunkt der
Spitzenfahrication nach Frankreich hin zu verlegen und eine gewinnreiche
Industrie seinem Vaterlande tributpilichtig zu machen, wodurch Jahrhun-
derte lang tausend und abermals tausend fleissige Hände in den indu-
striellen Städten und den gebirgreichen Gegenden des Landes lohnende
und anregende Beschäftigung fanden. Mit Recht konnte daher gesagt wer-
den, dass die Spitzenfabrication für Frankreich das geworden sei, was
ehemals die Goldminen von Peru für Spanien waren. f
Was nun zunächst den merkantilen Vertrieb von kunstreich gewirkten
Spitzen auf französischem Boden betrifft, so ist hier noch hinzuzufügen,
dass seit der letzten Hälfte des XVII. Jahrhunderts der Absatz und der
Verkauf derselben ausschliesslich einer Corporation von Kaulieuten zu
Paris gehörte, welche sowohl durch wandernde Kleinhändler, als auch in
einzelnen Städten die I-Iauptmärkte für ihre werthvolle Kunstindustrie inne
hatten. So galten gegen Schluss des XVlI. Jahrhunderts in Frankreich
') Mämoires histor. sur la ville d'Alenqon, par M. Odolant-Desnos. Mengen 1787.