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bisher bekannte vollständige Grundriss eines solchen Mysterientempels aufgedeckt. An
eine Vorhalle mit einer Doppelreihe von je sechs Saulen schloss sich eine lange drei-
theilige Cella und an diese, um eine Stufe erhöht, das Allerheiligste mit einem halb-
runden Abschlüsse gegen die Südseite. Am Vorderrande dieser Stufe fand sich ein
grosser Steinblock mit einem Loche, das bis an's Erdreich drang und in dieses floss das
warme Blut der Opferthiere als Tribut an die grosse Erdmutter Kybele und die ihr ver-
wandten Machte.
Wahrend l-lauser diesem dorischen Marmortempel seine besondere Aufmerksamkeit
zuwendete, gelang es den Bemühungen Professor Niemann's, nahe bei jener Statte, auf
Grundlage der au gedeckten Fundamente und umherliegender Trümmer, aut dem Papiere
die Reconstruction jenes Weihetempels zu Stande zu bringen, welchen Arsinoe, die
Schwester und Gemahlin des zweiten Ptolemaers auf dem ägyptischen Throne, im dritten
Jahrhundert v. Chr. bauen liess. Der l-lausefsche Tempel kann nicht viel älter sein;
dass er trotz des apsisartigen Abschlusses nicht erst romischen Ursprungs sei, dafür
sprechen die gefundenen Reste einer Giebelgruppe. Weit entfernt von dem Kunstwerthe
der Aegineten- oder Parthenon-Gruppe sind sie gerade in ihrer geringen Vollendung ein
sprechender Beweis für den Rückgang der griechischen Kunst vom fünften bis zum dritten
Jahrhundert.
All" dies und die zahlreichen Sculpturstücke, welche als Ausbeute der Unterneh-
mung unsere künftigen Kunstmuseen zieren werden, sie zeigen, dass betreffs der beiden
bisher in Angriff genommenen Objecte die Leistung unserer Gelehrten eine vollständige
war, in Anbetracht der kurzen Zeit von sechs Wochen und der geringen Kosten von
sechstausend Gulden. Professor Conze schloss mit dem Wunsche, dass es der Regierung
gefallen moge, das begonnene Werk zu Ende zu führen und noch die Untersuchung
einer dritten Stelle zu ermöglichen und zwar derjenigen. wo der uralte Haupttempel ver-
muthet wird. Der reiche Beifall des Publicums zum Schlusse mochte wohl auch als
Ausdruck dessen dienen, dass es in diesem Wunsche rnit dem Vortragenden vollends
übereinstirnme. Oesterreich kann dann im Bewusstsein, zur Erforschung der grossen
classischen Vergangenheit, des unversiegbaren Quells geistiger Erfrischung für alle Zeiten,
auch sein Scharflein beigetragen zu haben, der grossen deutschen Expedition zur Aus-
grabung des Tempelhains von Olympia getrost entgegensehen.
Am m. und 19. November sprach Custos llg über die österreichische Ma-
lerei vor der Renaissance. Bei uns in den südöstlichen Marken des früheren
deutschen Reiches hatte die Tonkunst und Dichtung, getragen von der natürlichen Be-
gabung und Neigung des Volkes, von jeher gesegnete Statten blühendster Entfaltung ge-
funden und die Fürstenhbfe der Babenberger und zahlreiche Edle wetteiferten siegreich
mit dem Mäcenatenthum der Landgrafen von Thüringen auf der Wartburg. Selbst die
steten Kämpfe gegen aussere Feinde und die blutigen Reibungen der einzelnen Provinzen
an einander, bis sie sich zu einem festen Reichsganzen fügten, waren mit ihrer reichen
Gelegenheit zum Preise von Helden und Siegen jener Entwickelung nicht besonders hin-
derlich. Anders war es mit den bildenden Künsten; sie bedürfen zu ihrer Blüthe mehr
des ruhigen Friedens und ein solcher war unseren Landen Jahrhunderte lang nicht be-
schieden. Daraus erklärt es sich, dass eine eigenthümliche österreichische Kunst im Sinne
einer Kunstschule mit ausgesprochenem, von anderen sie unterscheidendem Typus sich
niemals bilden konnte. Es fehlte durchaus nicht an reichen Ansätzen hiezu und stets
waren dieselben vielversprechende Zeugnisse für die glänzende Kunstbegabung unserer
Lande; stets fand das fremde Gute begeisterte Aufnahme bei uns, aber zu einer frucht-
bringenden Verarbeitung desselben für die Ausbildung eines selbständigen österreichisch-
nationalen Kunsttypus konnte es unter dem stürmischen Werdeprocess unseres Staates
niemals kommen.
Nichtsdestoweniger bildet der kaleidoskopartige Wechsel unserer Kunstentwickelung
unter dem sich ablosenden Einflusse der niederländisch-deutschen, der bohmischen und
dann der übermächtigen italienischen Schule für den Culturhistoriker einen eigenen Reiz.
Darum war auch Dr. llg's Vortrag in doppelter Hinsicht dankenswerth, einmal weil er
alles bisher bekannt gewordene Material in ubersichtlich-lehrhafter Weise zusammenstellte,
und zweitens durch Klarlegung des Sachverhaltes manchem bisher bestehenden Vor-
urtheil den Boden entzog. Er unterscheidet, abgesehen von der ganz abgeschlossenen
böhmischen Schule, fünf Gruppen: die Salzburger, Tiroler, Wiener, Karntner und eine
oberungarische, letztere auch noch in unser Bereich gehörig, weil sie die Frucht einer
uralten deutschen Colonie auf magyarischem Boden war. Nach dieser allgemeinen Ein-
theilung gab er unter stetem Hinweis auf die uns erhaltenen Kunstdenkmaler eine treff-
liche historische Skizze der einzelnen Gruppen, zunächst der salzburgischen, wie der s at-
karolingische Kunstcharakter der ältesten Miniaturen aus dem g. Jahrhundert bald vom
Byzantinismus beeinflusst wird, und wie dann im ti. Jahrhundert und noch mehr in der