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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe IX (1874 / 111)

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bisher bekannte vollständige Grundriss eines solchen Mysterientempels aufgedeckt. An 
eine Vorhalle mit einer Doppelreihe von je sechs Saulen schloss sich eine lange drei- 
theilige Cella und an diese, um eine Stufe erhöht, das Allerheiligste mit einem halb- 
runden Abschlüsse gegen die Südseite. Am Vorderrande dieser Stufe fand sich ein 
grosser Steinblock mit einem Loche, das bis an's Erdreich drang und in dieses floss das 
warme Blut der Opferthiere als Tribut an die grosse Erdmutter Kybele und die ihr ver- 
wandten Machte. 
Wahrend l-lauser diesem dorischen Marmortempel seine besondere Aufmerksamkeit 
zuwendete, gelang es den Bemühungen Professor Niemann's, nahe bei jener Statte, auf 
Grundlage der au gedeckten Fundamente und umherliegender Trümmer, aut dem Papiere 
die Reconstruction jenes Weihetempels zu Stande zu bringen, welchen Arsinoe, die 
Schwester und Gemahlin des zweiten Ptolemaers auf dem ägyptischen Throne, im dritten 
Jahrhundert v. Chr. bauen liess. Der l-lausefsche Tempel kann nicht viel älter sein; 
dass er trotz des apsisartigen Abschlusses nicht erst romischen Ursprungs sei, dafür 
sprechen die gefundenen Reste einer Giebelgruppe. Weit entfernt von dem Kunstwerthe 
der Aegineten- oder Parthenon-Gruppe sind sie gerade in ihrer geringen Vollendung ein 
sprechender Beweis für den Rückgang der griechischen Kunst vom fünften bis zum dritten 
Jahrhundert. 
All" dies und die zahlreichen Sculpturstücke, welche als Ausbeute der Unterneh- 
mung unsere künftigen Kunstmuseen zieren werden, sie zeigen, dass betreffs der beiden 
bisher in Angriff genommenen Objecte die Leistung unserer Gelehrten eine vollständige 
war, in Anbetracht der kurzen Zeit von sechs Wochen und der geringen Kosten von 
sechstausend Gulden. Professor Conze schloss mit dem Wunsche, dass es der Regierung 
gefallen moge, das begonnene Werk zu Ende zu führen und noch die Untersuchung 
einer dritten Stelle zu ermöglichen und zwar derjenigen. wo der uralte Haupttempel ver- 
muthet wird. Der reiche Beifall des Publicums zum Schlusse mochte wohl auch als 
Ausdruck dessen dienen, dass es in diesem Wunsche rnit dem Vortragenden vollends 
übereinstirnme. Oesterreich kann dann im Bewusstsein, zur Erforschung der grossen 
classischen Vergangenheit, des unversiegbaren Quells geistiger Erfrischung für alle Zeiten, 
auch sein Scharflein beigetragen zu haben, der grossen deutschen Expedition zur Aus- 
grabung des Tempelhains von Olympia getrost entgegensehen. 
Am m. und 19. November sprach Custos llg über die österreichische Ma- 
lerei vor der Renaissance. Bei uns in den südöstlichen Marken des früheren 
deutschen Reiches hatte die Tonkunst und Dichtung, getragen von der natürlichen Be- 
gabung und Neigung des Volkes, von jeher gesegnete Statten blühendster Entfaltung ge- 
funden und die Fürstenhbfe der Babenberger und zahlreiche Edle wetteiferten siegreich 
mit dem Mäcenatenthum der Landgrafen von Thüringen auf der Wartburg. Selbst die 
steten Kämpfe gegen aussere Feinde und die blutigen Reibungen der einzelnen Provinzen 
an einander, bis sie sich zu einem festen Reichsganzen fügten, waren mit ihrer reichen 
Gelegenheit zum Preise von Helden und Siegen jener Entwickelung nicht besonders hin- 
derlich. Anders war es mit den bildenden Künsten; sie bedürfen zu ihrer Blüthe mehr 
des ruhigen Friedens und ein solcher war unseren Landen Jahrhunderte lang nicht be- 
schieden. Daraus erklärt es sich, dass eine eigenthümliche österreichische Kunst im Sinne 
einer Kunstschule mit ausgesprochenem, von anderen sie unterscheidendem Typus sich 
niemals bilden konnte. Es fehlte durchaus nicht an reichen Ansätzen hiezu und stets 
waren dieselben vielversprechende Zeugnisse für die glänzende Kunstbegabung unserer 
Lande; stets fand das fremde Gute begeisterte Aufnahme bei uns, aber zu einer frucht- 
bringenden Verarbeitung desselben für die Ausbildung eines selbständigen österreichisch- 
nationalen Kunsttypus konnte es unter dem stürmischen Werdeprocess unseres Staates 
niemals kommen. 
Nichtsdestoweniger bildet der kaleidoskopartige Wechsel unserer Kunstentwickelung 
unter dem sich ablosenden Einflusse der niederländisch-deutschen, der bohmischen und 
dann der übermächtigen italienischen Schule für den Culturhistoriker einen eigenen Reiz. 
Darum war auch Dr. llg's Vortrag in doppelter Hinsicht dankenswerth, einmal weil er 
alles bisher bekannt gewordene Material in ubersichtlich-lehrhafter Weise zusammenstellte, 
und zweitens durch Klarlegung des Sachverhaltes manchem bisher bestehenden Vor- 
urtheil den Boden entzog. Er unterscheidet, abgesehen von der ganz abgeschlossenen 
böhmischen Schule, fünf Gruppen: die Salzburger, Tiroler, Wiener, Karntner und eine 
oberungarische, letztere auch noch in unser Bereich gehörig, weil sie die Frucht einer 
uralten deutschen Colonie auf magyarischem Boden war. Nach dieser allgemeinen Ein- 
theilung gab er unter stetem Hinweis auf die uns erhaltenen Kunstdenkmaler eine treff- 
liche historische Skizze der einzelnen Gruppen, zunächst der salzburgischen, wie der s at- 
karolingische Kunstcharakter der ältesten Miniaturen aus dem g. Jahrhundert bald vom 
Byzantinismus beeinflusst wird, und wie dann im ti. Jahrhundert und noch mehr in der
	        
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