197
Lygia Clark, Zwangsjacke,
1968, Projeto Helio Oiticica/Lygia Pape Estate,
Rio de Janeiro
Guy Brett
LEBENSSTRATEGIEN:
ÜBERBLICK UND AUSWAHL
Buenos Aires / London / Rio de Janeiro / Santiago de Chile
1960 - 1980
Das Schreiben über »Live-Kunst«, Performance, Aktionskunst
und Partizipation erfordert sicherlich eine Sensibilität für die
Komplexität des Lebens selbst, für seinen Fluß und für seine
Tendenz, Systeme und Dogmen zu überschreiten. In parado
xer Weise verlangt das Schreiben über dieses Thema sowohl
eine Einsicht in die Parteilichkeit des eigenen Standpunkts
und des eigenen Wissens wie auch die Anerkennung der
Gültigkeit der eigenen subjektiven Geschichte mit ihren
Lebenserfahrungen.
Wer also kann überhaupt ein Fachmann für Live-Kunst sein?
Es hat so viele unterschiedliche und verstreute Kunst-Events
und Perfoimances gegeben, daß ein Mensch nicht mehr als
einen Bruchteil des Gesamtphänomens kennen kann. Man
hielt sich zufällig zu einer bestimmten Zeit an einem bestimm
ten Ort auf; man sah eine Momentaufnahme einer Per
formance; man betrachtete ein Bild, das einen imaginären
Event suggerierte oder festhielt; man las den Bericht eines
Augenzeugen; man erinnert sich nur an einen Teil dessen, was
man gesehen hat, und vergißt den Rest usw. Mit anderen
Worten, man überläßt sich der Selektivität des Gedächtnis
ses - oder feiert sie - als Teil des unvermeidlichen Wirkens von
Verstand und Inspiration. Ebenso sollte eine Sensibilität für
ihre Analogie mit dem Leben selbst den Autor dazu bringen,
das Stadium hinter sich zu lassen, in dem man »Live-Kunst«
als einen weiteren gut verkäuflichen Stii, eine Kunstform oder
einen Ismus betrachtet. Kluge Worte! Beim Schreiben meines
Aufsatzes schlich sich unweigerlich ein Klassifizierungs
system ein, und mir wurde schmerzhaft bewußt, wieviel von
der künstlerischen Arbeit dabei verlorenging, sie in dieses
System einzupassen. Auch die Berufung auf »das Leben
selbst« venweist ja nicht auf irgendeine abgesprochene Sache
oder einen Gemeinplatz, denn hat nicht Paul Klee zu Recht
gesagt, daß in der Arbeit eines Künstlers »Kuriositäten zu
Wirklichkeiten werden, Wirklichkeiten der Kunst, die das
Leben aus seiner Mittelmäßigkeit zu heben vermögen«?
Vielleicht beziehen wir uns trotzdem auf die gleiche Sache, In
Klees Formulierung wird »Mittelmäßigkeit« zum Schlüssel
begriff. Wir sprechen immer noch von etwas, das ständig
gegen die Neigung ankämpft, künstlerische Erkenntnisse auf
Waren, bürokratische Kategorien und institutioneile Formeln
zu reduzieren. Wenn wir einen weiter gefaßten, suggestiveren
Begriff als »Performance-' oder »Happening« venwenden, wie
z. B. das »Live-Element« in der Kunst, beginnen sich viele
Türen zu öffnen. Wir beginnen zu sehen, daß ein gemeinsa
mes Projekt einen relevanten Querschnitt der Kunst der
sechziger und siebziger Jahre verbindet, unabhängig davon,
wo sie entstand und welcher stilistischen Kategorie sie
schließlich zugeordnet wurde. Das Bedürfnis, die Kunst wie
der mit dem Leben in Zusammenhang zu bringen, war
untrennbar mit einer Ablehnung aller Begrenzungen und ver
steinernden Strukturen verbunden, mit einem Kampf gegen
jene Institutionen, die auf einer hierarchischen Ordnung der
Techniken beruhten (Malerei und Skulptur an der Spitze), auf
nationalem Chauvinismus oder wirtschaftlicher Macht, also
eher auf dem Produkt als auf dem Prozeß, auf dem »Rühr-
mich-nicht-an«-Prinzip der Trennung zwischen Künstler und
Zuschauer, auf der kommerziellen Logik des Kunstmarktes
usw. Eine deutliche Verbindung zwischen den Kunst/Lebens-
Experimenten all jener Künstlern zeichnet sich ab, die in den
Bereichen arbeiteten, die später als »-kinetisch«, »prozessual«,
»konzeptuell«, »performativ«, »partizipatorisch« oder als
»Environment-Kunst« und »Pop-art« usw. bezeichnet werden
sollten. Viele dieser Bezüge liegen allerdings brach, weil sie
durch institutioneile Entwicklungen unterdrückt wurden, die zu
zahlreichen Ungerechtigkeiten führten. Beharrliche Nach
forschungen könnten sie wieder aufdecken, eine Art der
Recherche, die so wenig wie möglich durch den Umstand
beeinflußt werden sollte, daß die Literatur zu manchen
Künstlern mehrere Regale der kunsthistorischen Bibliotheken
füllt, während andere kaum erwähnt werden. Die Betonung
sollte auf dem Experimentieren liegen, auf Kunst als einer
Methode, Wirklichkeit zu überprüfen.
Dann würde sich zeigen, daß wir einem kulturellen Phänomen
gegenüberstehen, dessen Verbreitung durchaus am Maßstab
seiner Subtilität ist - einer Subtilität, die zumeist gegen den
Strich lief, die Risiken einging, Stereotypen aufbrach und oft
mals von der Zen-ähnlichen Praktik der Negation Gebrauch
machte: Sie erzeugte kein gewöhnliches Objekt, sie richtete
ihr Augenmerk nicht auf die erwarteten Orte, sondern wies auf
Dinge hin, die immer schon da waren, aber nie wahrgenom
men wurden. »Live-Kunst» antwortet bezeichnenderweise auf
die moderne Welt, indem sie ihre Polaritäten umschließt: sie
spielt gleichzeitig mit der Mobilität von Künstler und künstle
rischer Arbeit, die mit neuen Transport- und Kommunikations
mitteln einhergeht, und der Einzigartigkeit, Ortsgebundenheit,
Unübersetzbarkeit und Flüchtigkeit eines Erlebnisses oder
Events. Dieses Phänomen überschreitet an manchen Punkten
das stark befestigte Territorium der Galerie- und Museums
kunst, nur um aufzudecken, was jenseits davon liegt: flüchtige
Strukturen, kollektive Bemühungen, nicht realisierte oder
unmögliche Projekte, unendlich ausweitbare Pläne, neu
zusammengesetzte oder »Eigenbau«-Objekte usw.
Seit den frühen sechziger Jahren habe ich in London gelebt
und über die Kunst dieser Stadt geschrieben. Fast genauso