Vaters bei dergleichen Vorfällen über allen Ausdruck fei. Ich
für meinen Teil fehe hier weder die Unvermögenheit des Künft-
lers, noch die Unvermögenheit der Kunft. Mit dem Grade des
Affektes verftärken fich auch die ihm entfprechenden Züge des
Geflehtes; der höchfte Grad hat die allerentfchiedenften Züge,
und nichts ift der Kunft leichter, als diefe auszudrücken. Aber
Thimanthes kannte die Grenzen, welche die Grazien feiner Kunft
fetten. Er wußte, daß fich der Jammer, welcher dem Agamem
non als Vater zukam, durch Verzerrungen äußert, die allezeit
häßlich find. So weit fich Schönheit und Würde mit dem Aus
drucke verbinden ließen, foweit trieb er ihn. Das Häßliche
wäre er gern übergangen, hätte er gern gelindert; aber da ihm
feine Kompofition beides nicht erlaubte, was blieb ihm anders
übrig, als es zu verhüllen? - Was er nicht malen durfte, ließ
er erraten. Kurz, diefe Verhüllung ift ein Opfer, das der Künft-
ler der Schönheit brachte. Sie ift ein Beifpiel, nicht wie man
den Ausdruck über die Schranken der Kunft treiben, fondern
wie man ihn dem erften Gefetje der Kunft, dem Gefetje der
Schönheit unterwerfen foll.« □
Ich habe die Stelle vollftändig hierher gefetjt, weil fie die ganze
Denkweife Leffings charakterifiert und diefe teilweife heute noch
in Kunftdingen als richtig, klarftellend und wertend in Übung ift.
Auf die äußerliche Befcbreibung eines Motives in einem Ge
mälde bin, das feit Jahrhunderten zugrunde gegangen ift,
werden vorher gebildete Kunftgefe^e in dasfelbe hineingelefen
und dem Künftler Abfichten und Selbftbefcbränkungen zugunften
diefer »Gefetje« unterfchoben, für die nicht der mindefte Anhalt
befteht. Die ganze Argumentation ift ja literarifcb überaus geift»
reich; fie ift aber ebenfo unkünftlerifcb. Ein Künftler will nicht
beftimmte Gefetje in einem Werke befolgen oder exemplifizieren;
er nimmt fich nicht vor, einen beftimmten Gegenftand darzu-
ftellen und geftaltet denfelben nach gewiffen Gefetjen, fondern
er will eine Empfindung, die ihn erfüllt, durch ein Werk mit-
teilen. Er bat eine Vifion, eine »Fülle innerer Geflehte«, und
der Gegenftand ift ihm dann nur der Vorwand, die ihn er
füllende künftlerifche Empfindung darzuftellen. Wenn über ein
zwei Jabrtaufende altes, verfchollenes Werk eine künftlerifche,
nicht literarifche Vermutung geftattet ift, fo könnte die Sache
fo gewefen fein, daß Thimanthes eine Gruppe fah; er wollte in
diefer die Empfindung des Schmerzes geben; er batte im Leben
die Gefte der Verhüllung eines tränenden Geflehtes beobachtet;
er verwendete diefe Gefte in feiner Gruppe neben den anderen
Geften und Ausdrücken des Schmerzes als Gegenfatj und böcbfte
Steigerung. Er war vielleicht einer der erften, der diefe Gefte
der Verhüllung aus dem Leben in ein Kunftwerk übertrug;
fein Werk erregte deshalb durch diefes neue realiftifche Motiv
Auffeben; fo kam die Befchreibung feines Gemäldes auf die
Nachwelt. Es bedarf alfo keineswegs der Aufteilung von »Kunft-
gefetjen«, um ein künftlerifcbes Motiv zu erklären. Der Gegen-
fatj literarifcher und künftlerifcber Anfchauung ift augenfällig.
VI.
Wenn wir uns diefe Anfcbauungsweife zu eigen machen, fo
fällt damit der Gegenfatj zwifchen Idealismus und Realismus in
der Kunft; es fällt damit auch die alte Streitfrage, um welche
fchon viele Tinte gefloffen ift: inwieweit Idealismus und Realis
mus in einem Kunftwerke vereinigt fein müffen, vereinigt fein
können oder dürfen. Denn wir erkennen, daß Idealismus und
Realismus in diefem Falle nur Arten der Darftellung find,
welche mit dem Empfindungsinbalte der Kunft nichts zu tun
haben. Daß jede Darftellungsart in der Kunft der anderen
gleichwertig ift, wenn fie nur ihre Aufgabe erfüllt: die Über
tragung des dem Werke zugrunde liegenden Empfindungsinbaltes.
Von diefer Anfcbauung ausgehend, habe ich in meiner oben
zitierten Schrift das Kunftwerk wie folgt definiert: □
»Kunftwerk ift jedes Menfchenwerk, das die Kraft in fich trägt,
Empfindungen, die fein Schöpfer zum Ausdruck bringen wollte,
in einer zweiten Seele wiederzuerwecken.« □
Wir wollen uns nun fragen, ob ein Kunftwerk danach not
wendig »Schönheit« in fich begreifen müffe. Wäre Schönheit
eine Eigenfcbaft, fo könnte ein folcbes Poftulat allenfalls zu be
gründen fein. Schönheit ift aber nach obigem eine Wirkung.
Man ftoße fich nicht an dem fpracbpfycbologifchen Mangel, daß
danach das Wort Schönheit nicht ganz richtig gebildet wäre; es
ift ja nur ein Wort. Jene Wirkung aber fetjt notwendig einen
Empfänger voraus. Nun ift es febr wohl möglich, daß die Emp
findungsübertragung von dem Schöpfer durch ein Werk auf
einen Empfänger, den Genießenden, gelingt. Gleichwohl muß
diefer nicht die Empfindung der Schönheit haben. Das ganze
Werk kann ihm unfympatbifcb, gegenfätjlicb, widerwärtig fein.
Ein impreffioniftifcb gemaltes Bild zum Beifpiel kann febr wohl
die Kraft in fich tragen, die Empfindung des Künftlers einer
zweiten Seele zu übermitteln; gleichwohl wird vielleicht diefe
von der Darftellungsweife, wie von dem Empfindungsinbalte
unfympatbifcb berührt fein, das Werk nicht als »fchön« empfinden.
Damit die Wirkung »fchön« zuftande komme, muß der Betrachter
durch das Werk einen Genuß empfinden; es muß bei Betrach
tung des Werkes ein Luftgefübl entfteben. Diefes kann nicht
allgemein und bei jedem Empfänger der Fall fein. Es wird
von der individuellen Veranlagung des Empfängers ebenfofebr
wie vom Werke abbängen. Die Schönheitswirkung ift alfo in
dividuell und beruht auf der Erweckung fympatbifeber,
genußerzeugender Gemütsbewegungen bei Betrachtung
eines Werkes. □
VII.
Sehen wir zu, ob wir mit diefer Feftftellung etwas Beftimm»
tes und nicht etwa bloß einen neuen Begriff, eine neue, wieder
vom Neuen zu deutende Vorftellung gewonnen haben, uns alfo
nicht im fehlerhaften Zirkel bewegen. □
Welcher Vorgang liegt der Erwedkung fympatbifeber Gemüts
bewegungen bei Betrachtung eines Werkes zugrunde? Pbyfio«
logifcb und mit Karl Lange gefprochen: Es muß eine Verän
derung der vafomotorifeben Innervation entfteben, welche Genuß
bewirkt, welche »eine Stimmung, die man zu erreichen ftrebt,«
zur Folge bat. Was wir Gemütsbewegungen, Stimmungen
nennen, ift nach Lange*) nichts anderes, als »die Empfindung
gewiffer körperlicher Zuftände, die direkt oder indirekt aus dem
augenblicklichen Kontraktionszuftande unferer Blutgefäße ent-
fpringen. Eine Änderung in der Weite unferer feinen Blut
gefäße und damit in dem Blutreichtum der Organe wird be
gleitet von einem Komplex von Wahrnehmungen und Funktions
veränderungen, wie Kälte oder Hitje, Zittern, Muskelkrämpfen,
Sekretionsveränderungen u. dergl., die in Grad und Form je
nach der Stärke und der zugrundeliegenden Urfache variieren.
Wenn nun unter einem Eindrücke die Modifikation im Kreislauf
eine folcbe Stärke und Dauer annimmt, daß fie unterem ganzen
augenblicklichen Zuftande ein eigentümliches Gepräge gibt, dann
fagen wir, daß der betreffende Eindruck eine emotionelle Wir
kung gehabt, einen Affekt, eine Gemütsbewegung in uns bervor-
gerufen bat. Ein Eindruck, der nur auf unfere Intelligenz
wirkt, unfere Erkenntnis bereichert, unfer vafomoto-
rifches Syftem aber nicht weiter erregt, läßt uns kalt,
*) Sinnesgenüffe und Kunftgenuß, von Prof. KARL LANGE, Kopen
hagen. - Über Gemütsbewegungen. Von demfelben. □
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