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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 3. Jahrgang 1906/07

Vaters bei dergleichen Vorfällen über allen Ausdruck fei. Ich 
für meinen Teil fehe hier weder die Unvermögenheit des Künft- 
lers, noch die Unvermögenheit der Kunft. Mit dem Grade des 
Affektes verftärken fich auch die ihm entfprechenden Züge des 
Geflehtes; der höchfte Grad hat die allerentfchiedenften Züge, 
und nichts ift der Kunft leichter, als diefe auszudrücken. Aber 
Thimanthes kannte die Grenzen, welche die Grazien feiner Kunft 
fetten. Er wußte, daß fich der Jammer, welcher dem Agamem 
non als Vater zukam, durch Verzerrungen äußert, die allezeit 
häßlich find. So weit fich Schönheit und Würde mit dem Aus 
drucke verbinden ließen, foweit trieb er ihn. Das Häßliche 
wäre er gern übergangen, hätte er gern gelindert; aber da ihm 
feine Kompofition beides nicht erlaubte, was blieb ihm anders 
übrig, als es zu verhüllen? - Was er nicht malen durfte, ließ 
er erraten. Kurz, diefe Verhüllung ift ein Opfer, das der Künft- 
ler der Schönheit brachte. Sie ift ein Beifpiel, nicht wie man 
den Ausdruck über die Schranken der Kunft treiben, fondern 
wie man ihn dem erften Gefetje der Kunft, dem Gefetje der 
Schönheit unterwerfen foll.« □ 
Ich habe die Stelle vollftändig hierher gefetjt, weil fie die ganze 
Denkweife Leffings charakterifiert und diefe teilweife heute noch 
in Kunftdingen als richtig, klarftellend und wertend in Übung ift. 
Auf die äußerliche Befcbreibung eines Motives in einem Ge 
mälde bin, das feit Jahrhunderten zugrunde gegangen ift, 
werden vorher gebildete Kunftgefe^e in dasfelbe hineingelefen 
und dem Künftler Abfichten und Selbftbefcbränkungen zugunften 
diefer »Gefetje« unterfchoben, für die nicht der mindefte Anhalt 
befteht. Die ganze Argumentation ift ja literarifcb überaus geift» 
reich; fie ift aber ebenfo unkünftlerifcb. Ein Künftler will nicht 
beftimmte Gefetje in einem Werke befolgen oder exemplifizieren; 
er nimmt fich nicht vor, einen beftimmten Gegenftand darzu- 
ftellen und geftaltet denfelben nach gewiffen Gefetjen, fondern 
er will eine Empfindung, die ihn erfüllt, durch ein Werk mit- 
teilen. Er bat eine Vifion, eine »Fülle innerer Geflehte«, und 
der Gegenftand ift ihm dann nur der Vorwand, die ihn er 
füllende künftlerifche Empfindung darzuftellen. Wenn über ein 
zwei Jabrtaufende altes, verfchollenes Werk eine künftlerifche, 
nicht literarifche Vermutung geftattet ift, fo könnte die Sache 
fo gewefen fein, daß Thimanthes eine Gruppe fah; er wollte in 
diefer die Empfindung des Schmerzes geben; er batte im Leben 
die Gefte der Verhüllung eines tränenden Geflehtes beobachtet; 
er verwendete diefe Gefte in feiner Gruppe neben den anderen 
Geften und Ausdrücken des Schmerzes als Gegenfatj und böcbfte 
Steigerung. Er war vielleicht einer der erften, der diefe Gefte 
der Verhüllung aus dem Leben in ein Kunftwerk übertrug; 
fein Werk erregte deshalb durch diefes neue realiftifche Motiv 
Auffeben; fo kam die Befchreibung feines Gemäldes auf die 
Nachwelt. Es bedarf alfo keineswegs der Aufteilung von »Kunft- 
gefetjen«, um ein künftlerifcbes Motiv zu erklären. Der Gegen- 
fatj literarifcher und künftlerifcber Anfchauung ift augenfällig. 
VI. 
Wenn wir uns diefe Anfcbauungsweife zu eigen machen, fo 
fällt damit der Gegenfatj zwifchen Idealismus und Realismus in 
der Kunft; es fällt damit auch die alte Streitfrage, um welche 
fchon viele Tinte gefloffen ift: inwieweit Idealismus und Realis 
mus in einem Kunftwerke vereinigt fein müffen, vereinigt fein 
können oder dürfen. Denn wir erkennen, daß Idealismus und 
Realismus in diefem Falle nur Arten der Darftellung find, 
welche mit dem Empfindungsinbalte der Kunft nichts zu tun 
haben. Daß jede Darftellungsart in der Kunft der anderen 
gleichwertig ift, wenn fie nur ihre Aufgabe erfüllt: die Über 
tragung des dem Werke zugrunde liegenden Empfindungsinbaltes. 
Von diefer Anfcbauung ausgehend, habe ich in meiner oben 
zitierten Schrift das Kunftwerk wie folgt definiert: □ 
»Kunftwerk ift jedes Menfchenwerk, das die Kraft in fich trägt, 
Empfindungen, die fein Schöpfer zum Ausdruck bringen wollte, 
in einer zweiten Seele wiederzuerwecken.« □ 
Wir wollen uns nun fragen, ob ein Kunftwerk danach not 
wendig »Schönheit« in fich begreifen müffe. Wäre Schönheit 
eine Eigenfcbaft, fo könnte ein folcbes Poftulat allenfalls zu be 
gründen fein. Schönheit ift aber nach obigem eine Wirkung. 
Man ftoße fich nicht an dem fpracbpfycbologifchen Mangel, daß 
danach das Wort Schönheit nicht ganz richtig gebildet wäre; es 
ift ja nur ein Wort. Jene Wirkung aber fetjt notwendig einen 
Empfänger voraus. Nun ift es febr wohl möglich, daß die Emp 
findungsübertragung von dem Schöpfer durch ein Werk auf 
einen Empfänger, den Genießenden, gelingt. Gleichwohl muß 
diefer nicht die Empfindung der Schönheit haben. Das ganze 
Werk kann ihm unfympatbifcb, gegenfätjlicb, widerwärtig fein. 
Ein impreffioniftifcb gemaltes Bild zum Beifpiel kann febr wohl 
die Kraft in fich tragen, die Empfindung des Künftlers einer 
zweiten Seele zu übermitteln; gleichwohl wird vielleicht diefe 
von der Darftellungsweife, wie von dem Empfindungsinbalte 
unfympatbifcb berührt fein, das Werk nicht als »fchön« empfinden. 
Damit die Wirkung »fchön« zuftande komme, muß der Betrachter 
durch das Werk einen Genuß empfinden; es muß bei Betrach 
tung des Werkes ein Luftgefübl entfteben. Diefes kann nicht 
allgemein und bei jedem Empfänger der Fall fein. Es wird 
von der individuellen Veranlagung des Empfängers ebenfofebr 
wie vom Werke abbängen. Die Schönheitswirkung ift alfo in 
dividuell und beruht auf der Erweckung fympatbifeber, 
genußerzeugender Gemütsbewegungen bei Betrachtung 
eines Werkes. □ 
VII. 
Sehen wir zu, ob wir mit diefer Feftftellung etwas Beftimm» 
tes und nicht etwa bloß einen neuen Begriff, eine neue, wieder 
vom Neuen zu deutende Vorftellung gewonnen haben, uns alfo 
nicht im fehlerhaften Zirkel bewegen. □ 
Welcher Vorgang liegt der Erwedkung fympatbifeber Gemüts 
bewegungen bei Betrachtung eines Werkes zugrunde? Pbyfio« 
logifcb und mit Karl Lange gefprochen: Es muß eine Verän 
derung der vafomotorifeben Innervation entfteben, welche Genuß 
bewirkt, welche »eine Stimmung, die man zu erreichen ftrebt,« 
zur Folge bat. Was wir Gemütsbewegungen, Stimmungen 
nennen, ift nach Lange*) nichts anderes, als »die Empfindung 
gewiffer körperlicher Zuftände, die direkt oder indirekt aus dem 
augenblicklichen Kontraktionszuftande unferer Blutgefäße ent- 
fpringen. Eine Änderung in der Weite unferer feinen Blut 
gefäße und damit in dem Blutreichtum der Organe wird be 
gleitet von einem Komplex von Wahrnehmungen und Funktions 
veränderungen, wie Kälte oder Hitje, Zittern, Muskelkrämpfen, 
Sekretionsveränderungen u. dergl., die in Grad und Form je 
nach der Stärke und der zugrundeliegenden Urfache variieren. 
Wenn nun unter einem Eindrücke die Modifikation im Kreislauf 
eine folcbe Stärke und Dauer annimmt, daß fie unterem ganzen 
augenblicklichen Zuftande ein eigentümliches Gepräge gibt, dann 
fagen wir, daß der betreffende Eindruck eine emotionelle Wir 
kung gehabt, einen Affekt, eine Gemütsbewegung in uns bervor- 
gerufen bat. Ein Eindruck, der nur auf unfere Intelligenz 
wirkt, unfere Erkenntnis bereichert, unfer vafomoto- 
rifches Syftem aber nicht weiter erregt, läßt uns kalt, 
*) Sinnesgenüffe und Kunftgenuß, von Prof. KARL LANGE, Kopen 
hagen. - Über Gemütsbewegungen. Von demfelben. □ 
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