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Full text: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe III (1888 / 4)

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dem sich erst zeigen soll, wo und wie es wirklich sei? Ja, es wird geradezu als For- 
derung aufgestellt, dass der Aesthetiker die unmittelbare Frische der Liebe zu seinem 
Gegenstands in der Tiefe zurücklassen und sich vzu dem farblosen Ueberblicke des Ge- 
dankens in seiner Allgemeinheit- erheben solle. Dieser landläufigen Aesthetik von Oben 
muss, wie der Vortragende meinte, mit Fechner eine Aesthetik von Unten, der spe- 
culativen eine empirische Aesthetik gegenübergestellt werden. Die Aesthetik ist keine 
theoretische Wissenschaft, sondern sie hat in erster Linie praktische Aufgaben zu 
erfüllen, eine Auffassung, welche von den einsichtigsten Gelehrten und Künstlern getheilt 
wurde, so von Aristoteles, Horaz, Thomas v. Aquino, von Lionardo da Vinci, Dürer, 
Rafael, Michel Angele, Hogarth, Reynolds, Philipp v. Champaigne, von Lope de Vega, 
Corneille, Boileau, Shakespeare, Lessing, Goethe, Keller, Semper u. A. So ist die Poetik 
des Aristoteles eine Formenlehre und eine auf diese gegründete Technik. Auch der 
Kunst liegt, wie der Natur, eine beschränkte Zahl von Normalformen und Typen zu 
Grunde, die, aus uralter Ueberlieferung stammend, in steten-i Wiederhervortreten eine 
unendliche Mannigfaltigkeit darbieten und ihre Geschichte haben, wie das Semper betont 
hat. Der empirischen Aesthetik ist das Schöne, das Zusammenwirken einzelner Formen, 
Typen, Motive zu einer Gesamtntwirkung, die den künstlerischen Sinn erfreut und be- 
friedigt; die Aesthetik hat den Antheil dieser Elemente und ihrer technischen Verwerthung 
und Verwirklichung zu dem wohlgefälligen Gesammteindrucke zu untersuchen. Aus diesem 
Thatbestande lassen sich für jede Kunst gewisse Regeln des Kunstschatfens ableiten, 
welche bis zu einer gewissen Allgemeinheit erhoben werden dürfen; man hat aber wohl 
zu beachten, dass nicht das Einfache, sondern das Zusammengesetzte, das Zunächst- 
liegende, nicht jene Elemente, sondern das aus ihrer Fülle gebildete höchst complicirte 
Kunstwerk, das durch die Erfahrung gegebene Concrete, Besondere ist, während die Auf- 
losung des Kunstwerken in jene letzten Bestandtheile schon einen sehr weiten Fortschritt 
auf dem Wege der Abstraction und Verallgemeinerung bedeutet. Sempefs nStilu, Falke's 
wAesthetik des Kunstgewerbesu, Scherer's feinsinnige literarhistorische Untersuchungen 
liefern wichtige Beitrage für eine empirische Aesthetik. Vor Allem hat eine solche aber dem 
engen Verhältnisse zur Psychologie Rechnung zu tragen, zu untersuchen, was unter ästhetisch 
zu verstehen ist, die von Fechner aufgestellten Gesetze der ästhetischen Schwelle, der ästheti- 
schen Hilfe, der einheitlichen Verknüpfung des Mannigfaltigen, der ästhetischen Association 
u. s. w. zu prüfen, im Anschlusse an eine empirische Psychologie das Wesen der Phan- 
tasie, des Genies, des Geschmackes zu ergründen. Auch die Physiologie wird zu berück- 
sichtigen sein, wie z. B. Helmholtz' nLehre von den Tonempfindungenu, Brüclte's nPhy- 
siologie der Farbenk, die Untersuchungen von Stumpf, Hering u. A. beweisen. Einsprache 
muss jedoch erhoben werden gegen die Versuche, die Aesthetik ganz auf Naturwissen- 
schaft zu stelien, die Gesetze des Gefallen: und Missfallens ausreichend aus materiellen 
Gehirnprocessen erklären oder auf Vererbung und Anpassung zurückführen zu wollen. 
Nach all dem kann die Aesthetik nicht im strengen Sinne des Wortes Wissenschaft sein, 
soferne Wissenschaft die von praktischen Zielen freie, rein theoretische Betrachtung, 
Untersuchung und gesetzliche Verknüpfung innerlich verwandter Wahrheiten ist. Die 
Aesthetik ist eine praktische Disciplin, eine Kunst wie die Heilkunde und die Politik 
praktische Disciplinen, Künste, sind im Gegensatze zu den theoretischen Wissenschaften 
der Physiologie und Pathologie und zur theoretischen Geschichtswissenschaft. Wenn 
diese (empirische) Aesthetik zu Worte kommt, dann wird die speculative Aesthetik, der 
echte Künstler sich nie und einsichtige Kunstfreunde nur widerwillig beugten, ver- 
schwinden, die wahre Kunstempfindung wird über die unwahre Kunstr he- 
torik siegen. ' 
Literatur - Bericht. 
Geschichte des Deutschen Kunstgewerbes. Von Jakob von Falke. Mit 
Textillustrationen und Farbendrucken. i.-z. Heft. (Geschichte der 
Deutschen Kunst, Lief. ig u. 21.) Berlin, G. Gr0te'sche Verlagsbuch- 
handlung, 1888. 4". a Lief. M. 2'- 
Die Verlagsbuchhandlung von G. Groie in Berlin hat sich ein neues und gewiss 
hoch anzuschlugendes Verdienst um die Kunstliterntur erworben, als sie den Plan fasste, 
dem deutschen Volke in einem großen, von Fachrnänncrn gearbeiteten Prachtwerke die 
Geschichte seiner Kunst zu bieten. Das Unternehmen ist auf fünf Theile berechnet, von 
denen die beiden ersten, die uGeschichte der deutschen Bnukunst- von R. Dohme und 
die i-Geschiehte der deutschen Plastik: von W. Bade, bereits in würdigster Weise voll- 
endet sind. Der dritte und vierte Theil wird die Geschichte der deutschen Malerei und 
hhrg. l 888. 6
	        
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