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Objekt: Monatszeitschrift XIII (1910 / Heft 6 und 7)

diesen Mängeln und damit allen bösen Folgen abzuhelfen ist. Den Begriff "Jurisprudenz" 
selbstverständlich hier im weitesten Sinne des Wortes gefaßt, als Lehre, welche nicht nur 
die abstrakten Rechtsnormen, sondern auch die lebendigen Organisationsformen für das 
neue Recht schafft. 
Ich habe eben auf die Bauhygiene hingewiesen. Auch nach diesem Worte handelt 
es sich somit um die Vereinigung zweier Wissensgebiete, wobei ausgedrückt wird, daß 
der Architekt den Postulaten der I-Ieilwissenschaft zu folgen hat. Diese Postulate scheinen 
sehr einfach, ja auch der Zahl nach sehr wenige zu sein - erschöpfen sie sich doch der 
Hauptsache nach in dem Begehren nach Luft und Licht! - so daß man fiiglich staunt, daß 
sie, die doch selbstverständliche Attribute jeder menschlichen Behausung sein sollen, 
gleichwohl als besondere Forderungen aufgestellt werden können. Und doch wurden diese 
Forderungen mit Recht besonders erhoben, werden sie stets von neuem wiederholt. 
Denn hinter diesen anscheinend bescheidenen Forderungen verbirgt sich das gesamte 
modernewirtschaftliche Problem der Baukunst, das Problem, mit möglichst geringen Mitteln, 
demnach auch auf einer möglichst engbegrenzten Grundüäche für eine, wenn auch zahl- 
reiche Familie Wohnräume so herzustellen, daß sie dern Alltagsleben zweckdienlich ange- 
paßt - dies ist ja unbestreitbar die erste Forderung - zugleich alle mit breitem Licht- 
einfall und genügendem Luftdurchzug ausgestattet sind. Als erschwerend kommt noch 
hinzu, daß auch die heimischen Wohnsitten beachtet werden müssen, ja zwingend beachtet 
werden müssen, da sie meist so tief in den sonstigen Lebensgewohnheiten, in der örtlichen 
Lage und den wirtschaftlichen Verhältnissen begründet sind, daß ein Abgehen davon mehr 
bedeuten würde, als ein Bruch mit der liebgewordenen Tradition. Dies und nicht nur das 
ästhetische Moment ist ja auch der Grund dafür, daB der Ruf nach Erhaltung der heimischen 
Baukunst allerorts immer mehr an Bedeutung gewinnt und Beachtung findet. 
Die Schwierigkeiten, welche die Baukunst hier zu überwinden hat, sind demnach 
tatsächlich so bedeutende, daD das anscheinend Selbstverständliche mit Recht zu einer 
Forderung im Namen des Gemeinwohls erhoben werden konnte, einer Forderung, die zu 
lösen, die Architekten aller Kulturstaaten mit vereinten Kräften dauernd bemüht sind. In 
Verfolg dieser Erwägung finden Sie auch mit unserem Kongreß eine Ausstellung von 
Plänen und Modellen mustergültiger Kleinwohnungen im Im- und Auslande verbunden, 
die ein lehrreiches Bild darüber gibt, mit welcher Ausdauer, welchem Scharfsinn und 
künstlerischen Vermögen darum gekämpft wird, die Natur zu bezwingen, in ringsum- 
mauerten Räumen Licht und Luft nach dem Maße der menschlichen Bedürfnisse Zutritt 
zu gewähren. 
Schon aus dieser kurzen Darstellung, die das Wohnungswesen nur berührt, erscheint 
somit erwiesen, daß drei Wissenschaften: die Medizin, die jurisprudenz, die Ingenieur- 
und Baukunst, an der Lösung der Wohnungsfrage beteiligt sind. Diese drei Wissensgebiete 
stehen hier in so engem Zusammenhange, daß jeder Fortschritt in der einen unbedingt 
auf die anderen zurückwirken muß. Wissenschaft aber, in welcher Form auch immer, ist 
Arbeit und, auf die Wohnungsfrage angewendet, Arbeit zum sozialen Fortschritt, also 
bevorzugte Arbeit, die, wenn die Zeichen nicht trügen, immer mehr in den Vordergrund 
tritt, als beredtes Zeugnis des zunehmenden Gemeinsinnes, des Gefühles, daß trotz aller 
wirtschaftlichen und sozialen Kämpfe ein gemeinsames Band alle Menschen umfaßt; das 
klare Bewußtsein, im Menschen den Menschen zu sehen, das Bedürfnis, alle an den Wohl- 
taten der Kultur teilnehmen zu lassen. Die Wissenschaft allein aber wäre doch ohnmächtig, 
alle diese Notwendigkeiten zu schaffen, alle Mittel bereitzustellen, deren jeder wahrhafte 
Fortschritt bedarf; denn sie stellt nur die Grundlinien unseres Denkens fest, sie gibt nur 
die Richtschnur für ein zweckbewußtes Handeln - den Schaffensdrang, die Tätigkeit 
selbst vermag sie jedoch nicht auszulösen. Dies vermag nur dann zu geschehen, wenn 
eine große Idee vorerst die intellektuell Auserwählten eines Volkes, dann die Menge 
bewegt, wenn das Wissen um eine Sache zu einer massenpsychologischen Kategorie 
geworden ist. In allen diesen Belangen soll aber und wird gewiß unser Kongreß dank
	            		
Ihrer Mithilfe führend sein, wird durch das gesprochene Wort der Wissenschaft und Praxis den Weg zum Herzen der Menschen finden, wird der Menge, die noch außensteht und ungläubig ist, den Glauben schenken, daß auch auf dem für die Familie, das Volk und den Staat so wichtigen Gebiete der Wohnungsfrage eine große, segenspendende Besserung möglich ist. Und so wünsche ich denn Ihren Verhandlungen jenen Erfolg, der mir der schönste zu sein scheint, den wir anstreben können: Durch Arbeit zum Herzen der Menschen und damit zum Wohle unserer Mitbürger!" Nachdem der Kongreß noch von den Vertretern des Landesausschusses, der Stadt Wien, der Zentralstelle für Wohnungsreform willkommen geheißen worden war, ant- worteten der Ehrenpräsident des Kongresses, der Direktor der Belgischen Nationalbank Lepreux, namens des Permanenten internationalen Komitees und die offiziellen Vertreter der auswärtigen Regierungen. Die eigentlichen Kongreßverhandlungen hatten von vorn- herein eine bestimmte Richtschnur durch die vom Permanenten Komitee festgesetzte Tagesordnung erhalten. Denn die Wohnungsfrage umfaßt so zahlreiche Detailprobleme. daß die Diskussion, sollte sie fruchtbringend werden, auf einzelne Fragen beschränkt werden mußte, die durch zahlreiche. aus den verschiedenen Ländern von hervorragenden Fachleuten erstattete und in Druck gelegte Spezialreferate eine sorgfältige Vorbereitung erfahren hatten. So standen denn vier Probleme zur Diskussion: die kommunale Wohnungs- politik, die Kreditorganisation für die gemeinnützige Bautätigkeit, die Frage lGeinhaus (Cottage) oder Miethaus (Block), endlich die Frage, in welcher Weise eine Verbilligung der Baukasten möglich wäre. Die Diskussion dieser Probleme, an welcher Angehörige aller Länder und Nationen in lebhafter Wechselrede sich beteiligten, empfing in den erschöpfenden einleitenden Berichten der Generalreferenten ihre breite und sichere Grund- lage. Und tief prägte sich in dern Widerstreit der Meinungen jener große, noch nicht überwundene Gegensatz der beiden Weltanschauungen aus, von denen die eine alles von der Selbsthilfe des einzelnen erwartet und von dem Eingreifen des Staates wie der öffentlichen Körperschaften in das Wirtschaftsleben eine Lähmung der Selbstverantwort- lichkeit des Individuums befürchtet, während die andere an die Hilfe des Staates und der Gemeinde appelliert und ihnen wenigstens insoweit die PHicht zur I-Iilfeleistung im Kampfe gegen die Wohnungsnot auferlegt, als es sich um jene Kreise der Bevölkerung handelt," die wirtschaftlich zu schwach oder zu wenig erfahren sind, um sich aus eigener Kraft zu helfen. Deutlich trat in der Diskussion über die Frage Cottage oder Block von neuem der tief wurzelnde Gegensatz zwischen der Wohnweise in England zutage, die nur das Einzel- haus als berechtigte Wohnform anerkennen will und schroff das Massenmiethaus ablehnt, und der Wohnsitte des Kontinents, die in den Großstädten das Massenmiethaus geschaffen hat, einen Typus, von dem sie sich angesichts der mit ihm zusammenhängenden Gestaltung der Bodenpreise nicht mehr zu befreien vermag. In all den zur Diskussion gestellten Fragen haben die Kongreßverhandlungen natürlich eine entscheidende Lösung nicht gebracht, aber sie haben unzählige neue Erfahrungen vermittelt, sie haben wiederum gelehrt, daß es für die Probleme der Wohnungsreform wohl keine einheitliche, überall gültige Lösung, aber zahllose Formen der Lösungen gibt, die, richtig verstanden und angepaßt, weit über das Gebiet ihrer ersten Anwendung hinaus Nachahmung finden können. IEN. DIE AUSSTELLUNG GEMEINNÜTZIGER WOHNUNGS- ANLAGEN 1910. Die anläßlich des IX. internationalen Wohnungskongresses in den Räumen des k. k. Österreichischen Museums in der Zeit vom 12. Mai bis 26. Juni veranstaltete Ausstellung gemeinnütziger Wohnhausanlagen begegnete dem regsten Inter- esse sowohl bei den Kongreßteilnehmern als auch im Publikum. Die österreichische Abteilung der Ausstellung enthielt naturgemäß fast alle hier bekannten gemeinnützigen und industriellen Wohnungsanlagen sowie viele Projekte, die erst im Entstehen be- griffen sind. Bemerkenswert waren die leider noch zu wenig publizierten Anlagen der
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