XLVI Die gegenwärtigen Aufgaben der Verwaltung des artistischen Bildungswesens.
Wicklung mit jedem Tage in den Concurrenzgebieten der österreichischen Industrie
klarer erkannt wird. Unter Anderem haben die von patriotischem Freimuth einge-
gebenen Reuleaufschen Briefe aus Philadelphia in den Kreisen der Indu-
striellen, Künstler und Schulmänner Deutschlands lebhafte Bewegung hervorgerufen.
Sie. haben dazu wesentlich beigetragen, dass die Frage der Zeichennuteriichtsreform
dort in den Vordergrund des Interesses getreten ist. Vor wenigen Wochen sind in
Berliner Fachvereinen Petitionen an die Regierung beschlossen worden, in welchen
um durchgreifende Reformen auf dem Gebiete dieses Unterrichtes gebeten wird. ')
Alle. deutschen Staatsleitungen beschäftigen sich gegenwärtig eingehend mit dieser
Angelegenheit und wenden den seit einigen Jahren in Österreich begonnenen Bestre-
bungen zur Reform des Geschmackes und zur Hebung der Künste ihr Augenmerk
zu. Viele hier gewonnene Erfahrungen werden auch dort sich fruchtbringend
erweisen. Was aber über den Werth jeder einzelnen Erfahrung geht, ist die grosse
Erfahrung, dass ideale Güter, auf welchem Boden immer errungen, ein gemeinsames
Besitzthurn der Culturwelt bilden. Soweit die Civilisation die Völker verknüpft,
kommt die Culturarbcit des einen bald genug auch den andern zu Gute, und
inmitten des steten Flusses der Entwicklungen verweilt keines ungestraft auf
erreichtem Hultplatze. Dieser nothwendige Zwang von Aussen treibt auf allen
Lebensgebieten und in allen Ländern zu ununterbrochenem Schaden an. Er bewahrt
die europäische Cultur vor Erstarrung. Darum darf sich Österreich rlickhaltlnser
Sympathie hingeben für die in den Nachbarläudern erwachten reformatorischen
Bewegungen, sobald es nur selbst entschlossen ist, nicht stille zu stehen. Wollte
es aber nach halb gethaner Arbeit feiern, wollte es sich begnügen mit den Erfolgen
der letzten Jahre, so könnte ihni ein bitteres Geschick nicht erspart bleiben. Bald
dürften sich dann nur die Nachbarn der zielkundigen Initiative Österreichs freuen,
einer Flamme, die, während sie Anderen leuchtete, sich selbst verzehrt hat.
') Schon vor längerer Zeit hat der königl. preussische Minister der Geistlicbem, Unterrichts-
uud Medicinallngelegenlieiten eine Commission von acht Mitgliedern mit der Aufgabe betraut,
einen neuen Unterricbtsplan iilr den Zeicheuunterricht au Volks-, Mittel- und Fortbildungsschnlen
und an Lchrerseminarien auszuarbeiten. Bereits im Sommer und Herbst 1875 wurde von dieser
Comniission eine Reihe von Schulen zum Zwecke genauer Information besucht. Insbesondere die
Hamburger Schulen, an denen grosse Strebsamkeit in den Disciplinen des Zeichncns herrscht,
wurden eingehend studirt.
Um nicht allzu viele Zeit bis zur definitiven Feststellung eines Lehrgebäudes zu versäumen,
wurde mittlerweile möglicbste Fortbildung der Lehrer angestrebt. Im Herbste 1875 war die
Frequenz des Fortbildungscurses fllr städtische Lehrer am Gewerbemuseum in Berlin so gross,
dass die ErülTnung von Puallelclasscn notbwcndig wurde. Um die eifrigen und tglggtvgugn
Kräfte der Hamburger Gewerbeschule auch zum Nutzen des preussischen Schulwesens zu
verwenden, hat der königl: Cnltusminister mit dem Senate von Hamburg ein Abkommen
getroden, demzufolge die Lehrer der Provinz Schleswig-Holstein an der Gewubeschnie
Zeichcuunterricht erhalten können. Der erste derartige Zeichencurs wurde 1875 abgehalten und
erfreute sich sehr befriedigender Ergebnisse.