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Heiligenbilde und reicht es ihm zum Kusse, und'gibt's irgend ein Jubiläum
zu feiern, das für Kaiser und Volk von gleich hoher Bedeutung ist, so
sammeln die Bauern und Kaufleute Geldyum als Andenken ein prächtiges
Heiligeubild in der Kirche aufzustellen, die Officiercorps der kaiserlichen
Leib- und Gardekürassiere, der Kosaken- und Hußarenregimenter aber
bestellen bei Meister Sasikoff in St. Petersburg oder bei Owsjanikotf in
Moskau ein juwelengeschmücktes Heiligenbild im Werthe von io-2o.ooo
Rubel, um es dem obersten Kriegsherrn zu verehren. lm Westen lacht
man am Ende über eine solche alle Schichten der Bevölkerung durch-
dringende Religiösität und meint, eine brillantene Reitpeitsche oder
ein silberner Humpen seien passendere Geschenke für einen modernen
Monarchen.
Allein in Russland ist man in dieser Beziehung so conservativ, dass
es Niemandem gelingen würde, den Bildercultus im Volke lächerlich oder
unpopulär zu machen, ja alle Fremden, welcher Religion oder Nationalität
dieselben auch angehören mögen, verfallen diesem Bildercultus nach
kurzem Aufenthalte in Russland willenlos und so vollständig, dass der
gottloseste Socialdemokrat, der in Russland ein Hötel mit x00 Gast-
zimmern eröffnen wollte - ganz bestimmt zuerst ioo Heiligenbilder für
dieselben anschaffen müsste, ehe er an die Einrichtung von Küche und
Keller denken würde.
Und im Westen hat man keine Idee davon, wie viele Tausende von
Menschen sich rnit der Fabrication und dem Verkaufe von Heiligenbildern
beschäftigen und welche colossalen Geldsummen dadurch verdient und in
den Verkehr gebracht werden - abgesehen von der großen Menge
Goldes und Silbers, das alljährlich in kostbaren Votivgemälden angelegt,
ein unvergängliches und unzerstörbares Capital der Kirchen und Klöster
repräsentirt.
Im Westen kennt man sehr gut russischen Kaviar und russische
Juchten, aber nach russischen Heiligenbildern würde man in Paris und
London, in Berlin oder Wien vergeblich fragen.
Die Ursache davon liegt einestheils in dem Mangel an Sinn für
religiöse Aeußerlichkeiten bei den westlichen Europäern, anderntheils aber
an der Unwissenheit und dem niederen Bildungsgrad: der russischen
Heiligenbildet-Fabrikanten.
Der astrachanische Fischgroßhändler, der jährlich Hunderttausende
an Kaviar und Hausenblase verdient, würde nie für seine Waare Absatz-
gebiete im deutsch und französisch redenden Westen aufsuchen, wenn
nicht der Pariser Wein- und Delicatessenhändler selbst durch seine Agenten
die gesuchte Waare in Russland ankaufen würde. Ebenso würde ein
russischer Juchtenlederfabrikant, der kein Wort deutsch versteht und
der die Bedürfnisse der hochentwickelten ausländischen Galanteriewaaren-
Fabrication nie mit eigenen Augen wahrgenommen hat, keinen Arschin