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Da erhält der Einzelmensch, das lndividuum eine Existenzberechtigung
und der Bürgerstand, in allen Gewerben tüchtig und durch seinen Fleiß
wohlhabend geworden; beginnt dem Adel und Clerus ihre bevorzugten
Stellungen streitig zu machen. Bei ihm, dem Bürgerstande, findet auch
die Dichtung eine Heimstätte nach der Erniedrigung und Vernachlässi-
gung, in welche sie nach den schönen Tagen des Minnecultes bei Höfen
und Adel gesunken war. Man mag die Dichtung der Meistersänger als
Kunstwerk hoch oder gering anschlagen, sie ist immerhin ein Zeugniss
für den Gemeinsinn und die geistige Gesundheit des Bürgerthurns in den
Reichstädten. Allmälig bricht sich die Erkenntniss Bahn, dass der Bauer,
welcher mit seinem Ptluge in der Erde wühlt, doch auch ein Mensch
sein dürfte; der religiöse Sinn bäumt sich aus wahrer Frömmigkeit gegen
ein entehrendes, Gewissen und Forschung knechtendes Joch auf. Neue
Welttheile werden auf der Erde, neue Weltkörper im Aether entdeckt
und bisher ungeahnte Einblicke eröffnen sich in das Wesen der Natur
und deren wunderbare Ordnung bei scheinbarer Gesetzlosigkeit und Zufalls-
herrschaft. Deutschland nimmt bei diesem Eroberungszuge nach allen
Gebieten des Lebens einen Ehrenposten in der Heerschaar der Geister
ein, und die Einführung oder Verbesserung von Cotnpass, Oelmalerei,
Kupferstich, Demantschliff, Orgel, Feuergewehren, Taschenuhren, Mühl-
werken und vielen anderen mechanischen Instrumenten, das ist eine statt-
liche Ehrenkette, mit der sich die deutsche Nation stolz schmücken darf.
Aber das kostbarste Juwel an diesem Geschmeide ist die Erfindung der
Buchdruckerkunst; sie bot der Menschheit eine neue, unwiderstehliche
Waffe gegen Aberglauben und Ungerechtigkeit; mit ihrer Einführung ist
das Mittelalter als abgeschlossen zu betrachten und eine neue Aera der
Menschengeschichte beginnt.
Nach alledem muss jene Stelle in Dr. Linde's epochemachendern
und, wenn nicht ganz neue Documente aufgefunden werden, die Erfin-
dungsgeschichte der Buchdruckerkunst wohl abschließendem Werke: "Gu-
tenberg hat die Buchdruckerkunst gar nicht erfundene, jeden-
falls einigermaßen überraschend wirken. Und dennoch hat Linde nicht
ganz Unrecht. Man muss sich nur nicht darauf steifen, unter Buch eine
Reihe von zusammengehefteten Blättern Papier oder Pergament zu ver-
stehen, von denen man aus schwarz auf weiß gedruckten Zeilen etwas
mehr oder minder Gescheidtes ablesen kann. Gedruckt wurde, und
Bücher, ja gedruckte Bücher, gab es lange vor Gutenberg.
ln den Trümmern von Niniveh (Kujundschik) fand man {als Ueber-
reste der königl. assyrischen Bibliothek gegen 10.000 Thontafeln auf-
geschichtet, welche alle Zweige der alten Literatur vertreten. Mr. Men ant
hat ein nettes Büchlein über diese Hofbibliothek von Niniveh publicirt,
wonach die Tafeln gemäß ihrem Inhalte in verschiedene Gruppen geordnet
waren, Der Inhalt einer Tafel setzte sich auf der nächsten fort; sie waren
von r bis oft über roo numerirt, diese Serien wurden nach ihrem An-