Die Kunst in Russland und die Moskauer Ausstellungü.
Außerhalb Russlands ist die Geschichte der russischen Kunst sehr
wenig bekannt. Es ist daher nicht ohne Interesse, hier einen kurzen Ab-
riss_ derselben zu geben, bevor wir von der großen Kunst- und Industrie-
Ausstellung zu Moskau sprechen, welche ja einen Ueberblick über den
Fortschritt von Kunst und Industrie in Russland während des Viertel-
jahrhunderts (1855-1880) geben sollte, das die Herrschaft des Kaisers
Alexander II. darstellt. Wenn wir alle Denkmale altrussischer Kunst, be-
ginnend mit dem X. und endigend mit dem XVII. Jahrhundert, über-
schauen, so werden wir allenthalben in den Formen wie in der Verzie-
rung die Spuren einer besonderen Originalität finden, ungeachtet der
Einflüsse der fremden Meister: der Byzantiner im XI., der Italiener im
XV. und der Holländer im XVII. Jahrhundert. Bloß im XVIII. Jahrhun-
dert, nach der Berufung vieler französischer Künstler durch Peter I. und
Katharina II., und nach der Absendung junger russischer Künstler, der
Zöglinge der Akademie zu Petersburg nach Frankreich, gehorchte die
russische Kunst ganz und gar den fremden Einflüssen. Dies dauert bis
in die Mitte des XIX. Jahrhunderts; nach dem Krimkriege beginnt das
nationale Gefühl neuerdings in der russischen Gesellschaft zu erwachen
und gleichzeitig kann man in der Kunst eine realistische Richtung be-
merken. In der Literatur sieht man viel früher, mit dem Erscheinen des
Dramaturgen Priboiedoff, der Dichter Puschkin und Lerrnontolf, des
Fabulisten Kryloff, des Romanschreibers Gogol, eine ähnliche Wendung
eintreten; auf dem Gebiete der bildenden Kunst vollzieht sich dieselbe
erst zwanzig bis dreißig Jahre später.
Als letzter Repräsentant der classischen Richtung in der russi-
schen Kunst ist Karl Brulloff anzusehen, der Schöpfer des berühmten
Bildes: Pompejfs letzter Tag (1833). Unter seinen Schülern zeigten
einige mehr Selbständigkeit, wie z. B. Moller in seinen Werken: der
Kuss, eine Braut, Russalka (1842). BrullofFs Zeitgenosse, Alexander
Ivanoff, welcher sein Leben lang in Italien blieb, um ein einziges Bild:
w-Christi Darstellung vor dem Volkes zu malen und biblische Skizzen zu
entwerfen, in denen er besonders historische Genauigkeit anstrebte, er fand
bereits, dass die russische Kunst in eine neue Phase eintreten müsse, aber
er selbst hatte keine andere Neigung als für biblische Stoffe.
Man hält allgemein für den Vater der neuen russischen Malerschule
den Genremaler Venetzianoff. Nachdem dieser in der kaiserlichen
Eremitage das Bild von Granet gesehen hatte, begann er die Vorwürfe
für seine Gemälde aus dem Leben der Landleute zu wählen und beson-
ders sorgfältig die Natur zu studiren: nDas Innere des KapuzinerklüSfßrs
in Romu (1818). Venetzianoff hatte eine stattliche Schaar von Schülern
') Uebersetzt aus dem soeben erschienenen Werke: F.-G. Dumas, Annuaire
illustre des Beaux-Arts, 1882.
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