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Nur einige Beispiele will ich geben, welche die Flüchtigkeit Vasari's
kennzeichnen. Gegen Ende der Lebensbeschreibung des Andrea del Sarto,
gibt er die Grabschrift dieses Malers, welche besagt, del Sarto habe
4.2 Jahre gelebt und sei anno 1530 gestorben. Die geringste Aufmerksamkeit
in der Sache führt sonach auf das Jahr 1488 als Geburtsjahr des genannten
Künstlers. Nichtsdestoweniger lässt Vasari ihn schon im Jahre t478 geboren
werden. Im Leben des Orcagna setzt Vasari den Tod des Thomas von
Aquino in's Jahr 1323, da doch der Letztgenannte erwiesenermaßen schon
1274 gestorben ist. Aehnliche lrrthümer begeht Vasari nicht selten. Piper
gibt in dem obenerwähnten Artikel noch viele andere Beispiele, von denen
hier abgesehen werden kann, besonders, wenn ich zu allem UeberHusse
noch an die bekannte durchaus novellistische Behandlungsweise erinnere,
in welcher Vasari seine Biographien hält. Ein Geschichtchen, wenn es
nur pikant genug, ist ihm stets willkommener als wirkliche Geschichte.
Unkritisch nimmt er auf, was ihm erzählt wird oder was er in der Lite-
ratur vorfand. Das mühevolle Prüfen war niemals seine Sache. Wir werden
sehen, dass auch der Charfreitag als Geburtstag Raphaels so eine Art
Geschichtchen ist, sich zufällig, scheinbar ungezwungen ergebend und sehr
willkommen, um den Künstler, der durch seine Werke eine so ausgezeich-
nete Stelle einnimmt, auch mit einem besonderen kirchlichen Nimbus aus-
zuzeichnen dadurch, dass man ihn nicht nur an einem Cbarfreitag gestorben,
sondern auch geboren sein lässt.
Vielleicht trägt es zur Verständigung in der Sache bei, wenn ich eine
Verrnuthung darüber ausspreche, wie Vasari seine Daten über Raphael
construirt haben mag. Vasari muss wohl die Grabschrift Bembo's wenig-
stens in einer Abschrift zu Gesicht bekommen haben, sonst hätte er sie
nicht in seine Raphael-Biographie aufnehmen können. Ob' er sie auch
ganz und aufmerksam gelesen und verstanden hat, scheint fraglich, so
sonderbar diese Behauptung auch klingen mag. Dass er sie zum Theil
mit Verständniss gelesen hat, darauf deutet jene oben citirte Stelle: fini il
corso della sua vita il giorno medcsimo che nacque, welche wohl
hergenommen sein mag von dem: quo die natus est, eo esse desiit.
Dass er die Grabschrift aber in allen ihren Theilen aufmerksam gelesen
und verstanden, dafür spricht Nichts. Ja sogar lässt sich ein Grund
dagegen anführen.
Der Umstand, dass Vasari in seiner Raphael-Biographie auch beim
Todestage kein präcises Datum, sondern nur den Charfreitag nennt, lässt
auf Flüchtigkeit beim Lesen der Grabschrift, die doch das Datum gibt,
oder auf mangelhaftes Verständniss der nach alt-römischem Kalender ge-
brachten Angaben schließen.
In Vasari's Mittheilungen von RaphaePs Todestag finden wir zwei
Elemente vereinigt. Eines dürfte er aus der Grahschrift haben, u. zw. aus
jenem Theile derselben, der am auffälligsten, am leichtesten verständlich
ist und auch beim flüchtigen Lesen im Gedächtniss haften bleiben musste