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Psychische Elemente der bildenden Kunst.
Aus einem Vortrage, gehalten im Oesterr. Museum vom Ministerial-Vicesecretar
Dr. Michael Freiherr v. Pidoll.
Neben der Kraft des Menschen, sich inmitten der äußeren Welt,
die ihn umgibt, im Kunstwerk gestaltend zu bethätigen, besteht der
Drang, die so geschaffenen Werke seiner Phantasie zu erfassen und geistig
zu durchdringen. Ist es auch zunächst die sinnliche Erscheinung, die uns
fesselt, so sehen wir uns doch vor eine solche Fülle des Lebens gestellt,
dass wir alle Hilfskräfte unseres Geistes für das völlige Begreifen des
Kunstwerks nutzbar machen und, vom äußeren Eindrucke zu inneren
Beziehungen übergehend, den Gedankeninhalt derselben zu ergründen
suchen. Von diesem Gesichtspunkte aus besprach der Vortragende die
verschiedenen Wege, auf welchen man in den Wechsel der Kunst-
erscheinungen Ordnung und Zusammenhang zu bringen suchte und
gelangte zu dem Schlusse, dass die hiedurch geschaffenen geistigen Disci-
plinen, wie die Kunstgeschichte, Aesthetik und Philosophie der Kunst,
unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Bedeutung, zu dem eigentlich künst-
lerischen Zwecke, der lebendigen Gegenwart des Kunstwerks in uns,
nichts beitragen und dieser vielmehr nur dadurch erreichbar scheine, dass
wir den Vorgang, vermöge dessen das Kunstwerk aus dem Bewusstsein
des Künstlers hervorgeht, als Beschauer zu reproduciren trachten.
Eine allgemeine Verständigung über die Eigenart der Kunstwerke
erscheine deshalb nur insoferne möglich, dass man jene Beziehung der-
selben aufsucht, die ebensowohl für den Künstler, wie den Betrachter
besteht, nämlich die zum Bewusstsein und auf diese Art die psychischen
Factoren einer Erwägung unterzieht, durch welche sich das Product der
schöpferischen Phantasie mit aller Kraft der Unmittelbarkeit in unserem
Geiste wiederspiegelt. .
Das eigentliche psychische Element der bildenden Kunst ist nun, im
Gegensatze zu anderen, nur in zweiter Linie mitwirkenden Factoren, die
Vorstellung, und zwar, da die Kunst die äußere Erscheinung nicht
in Gedanken umzusetzen, sondern zu anschaulicher Darstellung zu bringen
hat, die sinnliche Vorstellung, welch' letztere stets eine gewisse sinn-
liche Qualität - das ibiov aicßntöv des Aristoteles - Intensität und
Ortsbestimmtheit besitzt und nur Gegenwärtiges enthält. Der durch
äußere Eindrücke gegebene lnhalt dieser sinnlichen Vorstellung wird
übrigens durch einen psychischen Factor, die mittelst der Phantasie
erzeugten Associationen, vielfach modificirt und zwar entweder bereichert
und gehoben, oder auch geschwächt. Hieraus ergibt sich für die Plastik,
dass sie, da sie es mit Gestalt und Form, kurz mit der sinnlichen Qua-
lität des Sehens zu thun hat, dem Auge die Arbeit des Erfassens mög-
lichst erleichtern und ihre Gestalten zufolge des beschränkten Vermögens
dieses Sinnesorgans vorwiegend in normaler, der gewohnheitsmäßig