Mein SPRACHLEHRER beginnt mit der Entstehung der
Sprache. Das Rauschen des Baumes, das Ächzen eines Zaunes,
das Heulen des Sturmes, das Murmeln des Baches nennt er
die SPRACHE DER ERDE. Und wie der Mensch selber
nichts anderes als Erde ist, kann seine Sprache auch nichts
anders sein als das Rauschen des Baumes, der gegen den
Sturm sich stemmt, als das Murmeln des Baches, der über
das Gestein sich fortmüht, als das Ächzen des Zaunes, den
der Wind bedrängt und umzuwerfen droht. Und wieder zeigt
der Lehrer das Aufwärtswollen in der Natur, dies rätsel
hafteste aller Rätsel, dies Aufblicken des ganzen Erdenlebens
zum Kristallkuppelbau Gottes. Von Bach und Baum zur
Sprache des Tieres, zur Sprache des menschlichen Kindes.
Ausrufe, Schallnachahmungen die ersten Worte! — Und so
muß dem Schüler auch seine eigene Sprache werden zu einer
kleinen, vorübergehenden Welle im stets bewegten Meer des
ewigen Werdens. — Wie einst die Worte unserer Mutter
sprache so schwer, so voll Wohlklang, voll starker, schöner
Vokale waren, wie sie flüchtiger, hastiger, seichter geworden,
je mehr sich die Menschen in Städten gesammelt zu auf
reibendem, der Herzkraft, der Gesundheit schädlichem Leben,
je mehr sie abtrünnig geworden der heiligen Erde und ihrem
reinen Dienste. Wie nur mehr die Wurzelsilben unserer
Wörter das eigentliche Leben in sich tragen, wie die Neben
silben abgestorben und verwelkt sind, die einst so voll und
feierlich mitklangen. Wie Sprache und ßegriffsbildung in
einem sich komplizierte, wie jedes Wort ein Werkzeug ist
im großen Kampf um Glück und Höhe. — Da wird der
Schüler eines Tages seine Sprache klingen hören, wie er
sie bisher nicht vernommen. Da wird er, wie er sich mit
seinem Leibe als ein Sonnenkind erkannt und wie er sich
mit seiner Seele, das heißt mit seinem Streben nach dem
Lichttempel in der Höhe EINS erkannt hat mit dem ewigen
Aufwärts, das als Urtrieb in der Erdscholle liegt, von nun
an auch seine Worte geheiligt sehn als das feinste Ausdrucks
vermögen, zu dem die Sprache der Erde sich entwickelt hat.
Und die Dichterworte in ihrer Schönheit wird er lieben wie
die blühenden Pfirsichzweige seines Gartens und die Lieder
der großen Erdgeister wird er genießen wie die sonnen
warme, erdblut-duftige Himbeere auf dem Hange und die
Sprüche der Weisen wird er empfinden wie Weinbergduft
oder wie den Odem seines reifen Kornfelds, das in der
Sommerglut um seine Heimstätte wogt und ihm die schönste,
reinste, menschenwürdigste Speise verspricht, das Brot. —
Und wenn er den feinen Aufbau, das Gewebe der Sätze,
der Satzverbindungen und Satzgefüge und Perioden durch
forscht, so wird er darin dasselbe „übergeordnet und Unterge
ordnet“ in dem Ausdrucke seiner eigenen Gedanken finden, das
er im Weltall draußen ebenso gewahr wird wie in jedem
Pflänzlein seiner Felder und in seinem eigenen Organismus.
Und der Rhythmus in der Sprache wird ihm als der Puls des
Alls, der Wogenschlag des ewigen Werdens, den er am
heißesten in seinem jungen Herzen spürt, eine Gottesoffen
barung sein.
Uber diesen Sälen aber, über dem Reich der festen und
sicheren Erkenntnis, sei DAS REICH DER AHNUNG. Wie
könnte die Ahnung täuschen, die aus sicheren Erkenntnissen
hervorgeht! Und also sei in der großen KRISTALLKUPPEL
meines Gipfelhauses die erlauchteste BÜCHEREI. In schönen
Büchern sei in großen Lettern das Schönste zu lesen, was der
Menschengeist von seiner ewigen Erkenntnis in der vom
Weltallspuls rhythmisch bewegten Sprache kundgetan. Und
blickt der Leser in dieser Bücherei auf, so sieht er durch
die kristallnen Wände auf das Gewoge der weiten Bergwelt
ringsum, die scheinbar unter ihm liegt und hinausschwimmt
in blauenden Horizonten wie das versteinerte Meer des ewigen
Werdens, des Urrhythmus, in dem wir mitschwingen wie
Schaumperlen auf Wellenkämmen. — Dort und da blicken
von den Hängen die Heimstätten der Schüler herauf, Garten
und Feld, Wald und Weide. Da, in solchem Anblick Homer
und Dante, Shakespeare und Goethe lesen ...! — Ja wahrhaft,
unsere Bücherei wird keine große sein. Das Allerbeste, das
wird auf den Tischen umliegen können und wird nicht steil
die Wände hinanklettern und als drohender Staubwust auf
uns niederäugen. — Was an Fraglichem, noch nicht als reinster
Ausdruck des ewigen Menschenstrebens Anerkanntem der
Schüler genießen will, das möge er in seiner Heimstatt lesen,
so lang ihm die Sonne stark genug auf die Blätter scheint
und ihm die Buchstaben nicht das Auge kränken.
Und über der Kuppel ein Stübchen zum STERNGUCKEN.
Immer wieder an klaren Abenden ein Blick in die Licht
ewigkeit, das hält den Menschen vollends hoch und rein, läßt
ihn die Erde immer‘wieder von neuem lieben, das erhält
ihn im Bewußtsein seiner Kleinheit und seiner Größe, im
Bewußtsein seiner Einheit mit dem Ewigen.
Jeder Schüler pflege in seinem Heim am Hange die KUNST,
die ihm lieb ist — DER male, der MUSIZIERE, der dichte.
Und jeder sei sich bewußt, daß Kunst ein menschlich Neu
schaffen der Ewigkeit ist. Jedes Thema, das der Musiker
plötzlich in seligem Glück empfängt, jedes Motiv, das der
Maler herausgreift aus einer gegebenen Landschaft, überhaupt
aus dem grenzenlosen Bereich der Wirklichkeit, die seine
Sinne empfinden, jedes kleinste Gedicht ist ein in sich ge
schlossenes Eine und es erfüllt uns mit heißem Glück oder
es ergötzt uns mit lieblicher Freude, weil es in dem be
schränkten Mittel ein Abbild ist des Unbegrenzten, weil es
in sich selbst vollkommen ist.
Aus dieser meiner Schule mögen sie dann niedersteigen, ins
Leben, in den Alltag zurück, sie mögen sich dem Sonderberufe
widmen, für den sie sich geeignet erkennen. Das ist gewiß,
sie werden das Sonnenbanner in der Hand tragen und mit
reißen alle, alle, die sich ihnen nahen, auf den Wegen zur
Gesundheit und zum Glück; sie werden, gewohnt an den
Aufblick zur Kristallkuppel des Schulpalastes, allem klein
lichen Eigendünkel ferne, willenlos sich eingegliedert sehn
in den ewigen Aufwärtstrieb, in das Emporringen, welches
aus der Erdscholle übergegangen ist ins Herz des Menschen
und die Gewähr bildet für eine unendliche Seligkeit.
DIE UNTERSTE UND BEI WEITEM WICH
TIGSTE GATTUNG DER SCHULEN IST DIE,
IN WELCHER DAS GELEHRT WIRD, WAS
JEDER MENSCH, SEI ER WAS ER WOLLE,
ARM ODER REICH, GROSS ODER GERING,
GELEHRT ODER UNGELEHRT, ZUERST
UND NOTWENDIG BRAUCHT. DIESE
SCHULE MUSS DIE ZAHLREICHSTE SEIN,
SIE MUSS ÜBER DAS GANZE LAND VER
BREITET SEIN, WOHER SIE AUCH DEN
NAMEN LANDSCHULE HAT.
ADALBERT STIFTER.
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DAS SCHULHAUS.
Z u den schlimmen Erinnerungen meiner Knabenzeit
gehört das Schulhaus. Noch immer ist die Empfin
dung von damals wach: der erkältende Eindruck
öder Gänge und Klassenzimmer, die, kahl und nüch
tern, die verschüchterte Seele mit dem Eiseshauch der
Lieblosigkeit erstarren, erschrecken und niederdrücken, an
statt zu erheben und frei und froh zu machen. Der Froh
sinn, den das Kind von daheim mitbringt, erstirbt an der
Schwelle des unfreundlichen Hauses, das eher einer Korrek
tionsanstalt gleicht denn einer Erziehungsstätte, wo der erste
Samen der Bildung in die jugendlichen Herzen gesenkt
werden soll. Der Grundsatz, daß Schule und Heim Hand in
Hand gehen soll, wird allein schon durch den Schulbau zu
schänden gemacht. Die Erfahrung werden die meisten aus
ihrem eigenen Leben bestätigen können, daß es keinen
größeren Gegensatz geben kann als den zwischen Schule
und Heim. Hier herrscht die Liebe, dort der Zwang. Aus
dem anheimelnden Schoß des Daheims tritt das Kind in das
frostige Bereich des Schulhauses: der harte, abstoßende Geist,
der in dieser Gefangenhausarchitektur waltet, schleicht sich
naturgemäß auch in den Unterricht ein und wird zum
Despoten; die Entfaltung der geistigen und sittlichen Kräfte,
die dem jungen Menschenwesen eine Lust sein soll, wird
durch ihn zum Leid. Allerdings gibt es viele auch, denen
dieser betrübende Gegensatz nicht so recht bewußt geworden,
weil sie in ihrem Zuhause nicht von Liebe und Trautheit
umschirmt waren, wie die meisten Kinder der Armut. Aber
gerade jenen Enterbten sollte die Schule um so reichlicher
geben, was etwa das Familienwesen versagt, eine warme
Stätte der Liebe und des Gedeihens. Die Schule gibt dem
Hungernden Stein statt Brot. Der Geist des Schematismus,
so er im Schulbau und in'weiterer Folge im Unterricht
waltet, ist eher bereit, weh als wohl zu tun.
Waren nicht die meisten von uns von dem Betreten
der Schulschwelle an bis zum erlösenden Glockenzeichen,
das den Schulschluß ankündet, von dem einen Gedanken
beherrscht: „Wenn’s nur schon aus wär’!?“
Man kann ruhig behaupten: jene Unaufmerksamkeit, jenes
Fluchtgefühl, das gewissermaßen den Zwang und die Härte
der Unterrichtsmethode rechtfertigt, sie vielleicht sogar her
aufbeschworen hat, ist zum Teil auf Rechnung der un
künstlerischen Bauweise zu setzen. Die Kunst stehe an der
Schwelle des Lebens. Wo ihre Segnungen fehlen, ist kein
Gedeihen. Man mag einwenden, daß es beim Schulbau
in erster Linie auf Forderungen praktischer und hygienischer
Natur ankomme, nicht aber auf ästhetische Wirkungen.
Wer Praktisch, Hygienisch und Ästhetisch in Gegensatz bringt,
befindet sich in einem traurigen Irrtum, denn er vergißt,
daß das Echtkünstlerische, zum Unterschied von dem Schein
künstlerischen, das Praktische und Hygienische zur Voraus
setzung hat, also in Wahrheit nichts anderes als die formale
Lösung dieser positiven Forderungen bedeutet. Die glück
liche, zwecklich formale Lösung wird allein zu unserem Ge
fühle sprechen und man wird im Ernste nur das schön finden,
was auch wirklich zweckdienlich ist. Wenn wir also von
künstlerischer Lösung sprechen, ist naturgemäß auch das
Praktische und Hygienische gemeint. Scheinkünstlerisch aber
sind alle bisherigen Schulbauten, die sich mit nichtssagenden
Schmuckformen an der Fassade begnügen und im Innern
Monumente unheimlicher Ideenarmut sind.
Schulbauten, denen der Segen der echten Kunst nicht fehlt,
sind annoch Gegenstand des Wunsches, nicht aber der Er
füllung. Wir haben bei uns noch keine Vorbilder, auf die
wir hinweisen können, nicht einmal noch ein Anfang ist
gemacht. Höchstens verwandte Gebilde aus verschollener
Zeit sind vorhanden, aus denen ungefähre Andeutungen zu
holen sind. Zwanzig Jahre oder mehr sind vergangen, seit
wir uns in den geschilderten Schulzimmern die Herzen er
froren haben, ein starker Umschwung der Meinungen hat
sich inzwischen vorbereitet und,‘auf einzelnen Gebieten tat
sächlich vollzogen, aber auf dem Gebiete des Schulhausbaues
ist alles beim Alten geblieben. Oder vielmehr ist es nicht
beim alten geblieben, das heißt so, wie es in unserer selig
unseligen Schulbubenzeit war, sondern es ist noch schlechter
geworden. Sechs bis acht Schulen wurden in unserer
Stadt während der letzten Jahre gebaut, Volks- und Bürger
schulen, Gymnasien und Realschulen, in denen der
Kasernenstil Triumphe feiert. Und unzählige Beispiele aus der
Provinz wären zu nennen, die als Schandflecke in der Land
schaft sitzen und innen und außen das Musterbild geistlosester
Schablonenarchitektur sind. Alle diese Verbrechen wider den
guten Geschmack und die künstlerischen Instinkte des Volkes
geschehen im Namen der Hygiene und der Zweckmäßigkeit.
In Wahrheit aber sind weder die Forderungen der Hygiene
und der Zweckmäßigkeit erfüllt, noch ist überhaupt den
primitivsten künstlerischen Anforderungen, die jede Dorf
schule beachtet, Genüge getan, obzwar aus den Lehrerkreisen
sich mehr als eine dringende Stimme erhebt und um Ab
hilfe schreit. Aber alle Schreie sind bisher ungehört verhallt,
und es bleibt nicht weniger als alles noch zu tun übrig. Es
ist bezeichnend für die Rückständigkeit auf diesem Gebiete,
daß ungeachtet der enormen Wichtigkeit des Schulwesens
bisher noch nicht der Versuch unternommen worden ist,
zur Erlangung von geeigneten Schulbauprojekten die zeit
gemäße Künstlerschaft im Wege einer Idealkonkurrenz für
diese Aufgabe zu interessieren und eine künstlerische Neu
gestaltung anzubahnen, während ein solcher Versuch, dem
Zeitgeiste gerecht zu werden, sogar schon in der kirchlichen
Kunst mit nicht geringem Erfolge durchgeführt worden ist.
Man kann nur aufrichtig wünschen, daß dieses Beispiel bei
den Schulbehörden Nachahmung fände, um der Verheerung
vorzubeugen, die nun auch schon dem offenen Lande droht.
Wenn man auf einerjWanderung in irgend ein Dorf kommt,
wo die Heimatkultur vom städtischen Einfluß noch ziemlich
unversehrt geblieben, ist es gewöhnlich nur ein Haus, das
unangenehm aus der Umgebung heraustritt. Dieses Haus ist
das Schulhaus. Mit fremden Allüren, die zur sonstigen
Bäuerlichkeit in häßlichem Widerspruche stehen, dem städti
schen Mietskasernentypus nahe verwandt, gebärdet es sich
wie ein verkommener Proletarier unter den behäbigen
Ackerbürgern. Mit ^37ehmut mag man dabei an die alte
Dorfschule denken, an das liebe, einfache, freundliche Haus,
das die Physiognomie der heimatlichen Wohnbauten trug,
nur der Lage nach und der Bedeutung entsprechend hervor
tretend unter den anderen, mit dem Gärtchen vorne oder
am Hinterhaus und den freundlichen, hellen Schulstuben
zu ebener Erde, weiß getüncht, mit reinlichen Bänken und
den Bildertafeln an den Wänden, die bedeutsam und groß
auf die junge, lernbegierige Schar niederschauen. Des Schul
meisters Wohnung liegt hinter den zwei oder drei Klassen
zimmern, und das ganze Haus hat davon den heimlichen,
wohltuenden Anstrich der häuslichen Behaglichkeit. Diese
Schule ist die Fortsetzung des Heims. Für ganz einfache
ländliche Verhältnisse bestimmt, ist sie freilich nicht geeignet,
einen anderen Maßstab abzugeben, als den für das ästhetische
Moment, also für das, was unter solchen Umständen dem
Gemüte frommt. Für größere Ansprüche, wie sie etwa von
den städtischen Schulen gestellt werden, hätten wir ein
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