E48
Zeit an, da man in oberitslischen Städten, namentlich in Lucca und
Venedig, Gewebe in dem bisher exotischen Stoffe - der Seide - selbst
anzufertigen begann, ohne dass man eine genügende Zeit der Uebung
hinter sich hatte, um zu einem selbständigen Style durchzudringen, der
den Bedingungen des Stolfcs und der neuen Gulturwelt, in die er nun-
mehr übertragen worden war, gleichmäßig entsprochen hätte. So begnügte
man sich mit der Imitation der sarazenischen Musterung, welche wenig-
stens den stoElichen Bedingungen entsprach. Das eine Stück (Nr. 7512)
ist eine Bordure mit reizend stylisirter Ornamentation, der Pflanzen- und
Thierwelt entnommen, grün auf röthlichem Grunde, der durch leichten
Einschlag von rothen Seidenfäden in die leinene Kette hergestellt ist.
Stylisirte Löwen erscheinen durch Runde mit sternförmigen Blattrosetten
oder durch übereck gestellte Quadrate mit weiß umränderten arabischen
Buchstaben getrennt. Besonderes Interesse bietet ein zweites Stück
(Nr. 7513) durch den Umstand, dass es arabische Inschriften in Silber-
druck auf blauem Leinen zeigt - ein Beispiel der Imitation arabischer
Decorationsweise in einem Stoffe, der des Anlehnens an fremde Muster
nicht bedurft hätte und somit ein Zeugniss dafür wie der Seidenstyl die
gesammte Textilindustrie jener Zeiten beeinflusste. Freilich wurde durch
die Graf'schen Funde auch der Zeugdruck als altorientalische Technik
erwiesen. Neben dem Gewebe und dem Modeldruck erscheint als drittes
Stück (Nr. 7514) das Fragment einer Applicationsstickerei, die wohl
einem zum ständigen Tragen bestimmten Gewandstück entnommen wurde,
denn der den Fond bildende Seidenstolf ist mit Unterlegung eines Futters
von blauer Wolle auf Leinen aufgenäht. Als Musterung erscheint ein
Löwe in braunem und ein Wappenschild in rothem TaHt applicirt, welch'
letzterem noch die drei Lilien in weißem Atlas aufgenäht waren. Der
rohe Charakter, der mit der zierlichen Stylisirung arabischer und arabi-
sirender Erzeugnisse keinerlei Verwandtschaft verräth, sowie die weißen
Lilien erlauben, nicht an die neapolitanischen Anjou's, sondern nur an
transalpine Angehörige des französischen Königshauses zu denken, wohl
aber dürfte die Arbeit noch dem 14.. Jahrhundert angehören.
Nicht nur von historischem Interesse, sondern von unmittelbarer
praktischer Bedeutung für die Gegenwart sind die Erzeugnisse jener Zeit-
periode, welche auf die eben besprochene folgt. Es ist die Zeit des Sich-
losmachens von den stylistischen Vorbildern, eines Processes, analog dem-
jenigen, der sich heute mit unserer Kunstindustrie vollzieht, die an der
Hand der aufgezeigten und erläuterten Vorbilder mündig geworden, nun
ihre Befähigung zum selbständigen KunstschaEen erweisen soll. Die
zeitlichen Grenzen für den Beginn und den Schluss dieser Periode sind
auf unserem Gebiete noch schwerer als auf demjenigen der hohen Kunst
abzustecken; von Italien ging die Bewegung aus und für dieses Land
zumindest kann die Bezeichnung als x-spätgothische Perioden nicht gelten,
welche Bock bis in's halbe Cinqnecento hinüber erstrecken wollte. Auch