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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe I (1886 / 9)

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schreitender Entwickelung seiner Arbeit, unbewusst jenen Gebilden aus- 
weichen, welche seinem Auge widerstreben; nachbildend wird er jene 
Gestalten festhalten, denen seine Empündung die Sanction ertheilen kann; 
er wird, ebenso unbewusst nach wiederholter Neugestaltung des Er- 
zeugten mit der Zeit eine Typenreihe schaffen, deren Glieder allmälig 
geläutert und geklärt sich der Vollkommenheit nähern. 
Solche einmal feststehende Typen können lange Zeit bestehen, ehe 
eine weitere Veränderung derselben bemerkbar wird; und nur allmälig 
und schrittweise, oft nur durch Veranlassungen materieller Natur, etwa 
dem Auftauchen eines neuen Gestaltungsmittels, oder durch die Vervoll- 
kommnung der Technik, vollzieht sich in den meisten Fällen die Um- 
wandlung der Formensprache. 
Diese Umwandlung kann sich in den Knnstepochen der verschiedenen 
Völker in proteusartiger Vielgestaltigkeit vollziehen. Entrückt in der Ver- 
gangenheit Ferne, sind die Urgestalten der dem Lebenden vor Augen 
befindlichen Gebilde so sehr der Beurtheilung verschlossen, dass die zu- 
sammenhängende Kette ihrer Entwickelung gar bald nicht mehr voll- 
ständig oder nur ausnahmsweise und unter besonderen Umständen über- 
blickt werden kann. Andererseits sind die Contraste der entwickelten Kunst- 
formen verschiedener Länder und Racen unter dem bestimmenden Ein- 
flusse specifischer Umstände nicht minder bedeutend, wenn gleich die 
ältesten Anfänge jeder Kunst fast in nichts von einander unterscheidbar 
sind. Und trotz dieser Vielgestaltigkeit der Erscheinung künstlerischer 
Formentwickelung, sind es doch dieselben unwiderstehlich wirkenden 
gesetzmäßigen Ursachen, welche jedem Kunstgebilde zu Grunde liegen. 
Sie sind es, welche das Gemeinsame der Stylarten ausmachen; 
welche bewirken, dass die letzteren sich keineswegs so schroff und feind- 
selig gegenüberstehen, als wohl manchmal angenommen wird; sie sind 
es auch, welche die Kunst davor bewahren müssen, dass sich eine ein- 
zelne Ausdrucksweise des Kunstschalfens als an sich alleinberechtigte 
und allein seligmachende Stylart behauptet. Es kann nach dem Gesagten 
daher auch nicht befremden, wenn wir in Stylperioden, deren Classicitiit 
von Niemandem angezweifelt wird, fremde Kunstformen als lebensfähige 
Reiser ihrem fernen heimatlichen Boden entnehmen und auf neuen Grund 
verpflanzen sehen, wo sie dann, manchmal mehr oder weniger zu einer 
neuen Varietät umgewandelt, fröhlich erblühen und Früchte tragen. 
Solche Adoptivkinder der Kunst lohnen reichlich die Mühe, welche 
ihre Pflege verursacht. Weit entfernt, dass sie sich zwischen [den einheitlich 
zusammenstimmenden Kunsterzeugnissen eines Landes als fremde Elemente 
bemerkbar machen, fördern sie die Harmonie, wirken belebend auf die 
Productivität der Kunst ihres neuen Vaterlandes und verschmelzen in 
kurzer Frist mit dieser in solchem Grade, dass alsobald auch das An- 
denken an ihre fremde Abstammung erlischt, und die spätere Wieder- 
erinnerung an diese nicht selten ungläubige Aufnahme findet.
	        
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