Natur, fortgesetzt. Ließ die Wirklichkeit rathlos, konnten sie die richtigen
Proportionen, den formenreinen und doch sprechenden Ausdruck der Köpfe,
die schönen Linien, den ruhigen Fall der Gewänder, die reizende Rundung
des Nackten in ihrer unmittelbaren Umgebung nicht gleich, nicht voll-
kommen finden, so griffen sie zur Antike und holten dort die brauchbaren
Motive. Ihre sinnlichen Eindrücke wurden durch Beobachtung der clas-
sischen Kunstwerke fortwährend berichtigt und vor jedem lrrthum, jeder
Einseitigkeit, jedem Verfalle in das Gemeine und Trockene bewahrt. Daher
begnügen sie sich auch mit ausgewählten Einzelheiten und wissen nichts
von dem geschlossenen Wesen der Antiken-
Merkwürdig bleibt aber immerhin, dass die Fähigkeit, das eigene
Empfinden in die neue Formensprache zu übertragen, in der Decorations-
kunst schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts mit einer Vollkommenheit
zu Tage tritt, die wir auf dem Gebiete der hohen Kunst noch lange ver-
missen. Es herrscht namentlich im ornamentalen Relief, dem eigentlichen
Ausgangspunkt der Decorationskunst von damals, eine technische Gewandt-
heit, Unbefangenheit und Freiheit, welche sonst die ersten Entwickelungs-
stadien einer neuen Kunstweise nicht zu begleiten pflegt. - Für diese
Erscheinung gibt es, wie mich dünkt, keine andere Erklärung als den
Hinweis auf die Gothik. Die gothische Decorationskunst hat in der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts eine hohe Stufe der Entwickelung erreicht,
sie überwuchert die Architektur, drängt sich vor und neigt zum freien
Naturalismus. Sie liebt es nicht allein Wiese und Wald, Feld und Garten
in ihre Verzierungskunst hereinzuziehen, sie weiß auch allerlei Gethier
darein zu verflechten und verfährt dabei mit einer Virtuosität, die vor
keiner handwerklichen Schwierigkeit zurückschreckt, bei aller Einseitig-
keit der Auffassung mit einem Verständniss für das Charakteristische vor-
geht, welches eingehende Studien voraussetzt. Nebenher hat sich in der
Miniaturmalerei eine Liebe für naturalistische Wiedergabe von Blumen
und Blüthen entwickelt, die wir 40 Jahre früher vergebens gesucht hätten.
Die rasche Entwickelung des Renaissance-Ornamentes muss also auch der
Gewohnheit der Spätgothiker zugeschrieben werden, naturalistische Formen
künstlerisch zu handhaben, sowie der großen Fertigkeit in der Ueber-
tragung solcher Formen in das spröde Material des Steines. "Denn das
Marmorrelief ist das erste und wichtigste Ausdrucksmittel für die neue
Decorationskunst.
Aus dem Ende der gothischen Stilperiode, so gut wie noch unbe-
einßußt von der Renaissance, haben wir am Dome zu Florenz selbst ein
bedeutendes Werk decorativer Sculptur, das für unsere Frage nach mancher
Seite hin interessant ist. Ich meine das zweite Südportal, die Arbeit eines
deutschen Bildhauers Piero di Giovanni Tedesco aus den letzten
Decennien des t4. Jahrhunderts '). Piero di Giovanni war ein hervorragender
') Siehe Hans Semper, Donatello, seine Zeit und Schule. l. Ahschn. Die Vor-
llufer Donntello's. Leipzig 1870.
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